Zum Hauptinhalt springen

Erschöpftes Griechenland

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou

Politik

Mittlerweile sollen 60.000 Flüchtlinge in Griechenland gestrandet. Eine Reportage.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Maroussi/Athen. Nikos Toskas, 64, kantiges Gesicht, mächtiger Schnauzer, wirkt in diesem Moment eher etwas verlegen. Der General a.d. galt in seiner aktiven Zeit beim griechischen Heer als "harter Hund". Und: Er war schon früh ein bekennender Linker. Daher sein Spitzname: "Schukow". So hiess der legendäre Generalstabschef der Roten Armee, der in den Schlachten um Stalingrad und Berlin triumphierte.

Toskas ist mittlerweile Minister für Bürgerschutz in Athens Regierung unter dem linksradikalen Premier Alexis Tsipras. Statt einer Uniform und schwerer, schwarzer Stiefel trägt er an diesem lauen Mittwochmorgen ein sportliches Sakko und modische, braune Sneaker. Toskas sucht vor einem halben Dutzend laufender Fernsehkameras und noch mehr Fotoreportern das Gespräch mit einer - etwas anderen - kinderreichen Familie.

"Ihr habt euch also entschieden, in eure Heimat zurückzukehren?", fragt Toskas in holprigem Englisch mit betont sanfter Stimme. Der Vater, noch jung, pechschwarzes Haar, erwidert lapidar: "Ja". "Wohin geht's?", fasst Toskas nach. "In den Irak". Toskas zieht die Augenbrauen hoch. "Irak? Ah ja. Wo genau?" "Nadschaf." Toskas: "Nadschaf? Wo liegt das?" "Südlich von Bagdad." Toskas: "Es ist wieder ruhiger dort, nicht wahr?" Stille. Der Mann aus Nadschaf lächelt nur. Es ist die sprichwörtliche gute Miene zum bösen Spiel.

Die Szene spielt sich im Camp Amygdaleza ab. Es liegt in einem weitläufigen Gelände im bürgerlichen Vorort Maroussi im Athener Norden. Toskas inspiziert das Camp.

Seine Regierung hatte vor ihrer Amtsübernahme in Athen Ende Jänner 2015 das Auffanglager Amygdaleza noch wegen seiner "elenden Lebensbedingungen" für Flüchtlinge und Migranten aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und anderswo als "Guantanamo" der ungeliebten Vorgängerregierungen verteufelt.

Amygdaleza war für Tsipras, Toskas und Co. das Sinnbild der Abschreckung für Flüchtlinge und Migranten, die in Europa ein besseres Leben suchten. Einfach nur schlimm.

Unmittelbar nach der Machtübernahme schlossen Tsipras und Co. mit viel Tamtam kurzerhand das Camp, nun eröffnet sie es wieder. "Herr Minister, 30 sind schon weg. Diese Familie fliegt heute abend nach Bagdad", erklärt unterwürfig ein Mann mit Brille, der neben Toskas trottet. Keiner weiss, wer der Mann ist. Das ist auch nicht wichtig. Toskas nickt - und die medienwirksame Tour durchs Camp geht weiter.

Zurück in die Herkunftsländer

Athens neue Botschaft ist klar: Griechenland ist seit der faktischen Schliessung der berühmt-berüchtigten Balkanroute und dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals vor exakt sechs Monaten nicht nur Endstation für Flüchtlinge und Migranten auf ihrem Weg nach Mittel- und Nordeuropa.

Hellas soll immer mehr zu einem Sprungbret werden, das die Neuankömmlinge mit Kind und Kegel aber nur in eine, in die für sie total verkehrte Richtung zurückkatapultiert. In der Causa illegale Migration heisst dies: Zurück in die Herkunftsländer. Will heissen: Das Gros nach Osten, immer mehr südlich nach Afrika.

Wer seinen in Hellas gestellten Asylantrag zurückzieht, wird nun prompt nach Amygdaleza gebracht. Nach spätestens zehn Tagen sollen die Reisepässe ausgestellt sein, bevor es per Flugzeug in die Heimat zurückgeht.

Offiziellen Angaben zufolge sind mittlerweile gut 60.000 Flüchtlinge und Migranten in Griechenland gestrandet. Das Problem: Seit dem gescheiterten Putschversuch im Nachbarland Türkei am 15. Juli steigt die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die unter Lebensgefahr auf die griechischen Inseln übersetzen, wieder signifikant an. Es sind zwar nicht Tausende Neuankömmlinge pro Tag wie vor dem EU-Türkei-Deal, aber mitunter mehr als Hundert täglich, die Griechenland und damit Europa auf dieser Route erreichen.

Aber: Die Bearbeitung der Asylanträge, die nunmehr fast alle Gestrandeten in Griechenland stellen, geht nur schleppend voran. Doch nur wenn ein Asylantrag letztinstanzlich abgelehnt ist, darf eine Abschiebung in Betracht gezogen werden.

Der Haken: die Türkei wird von den griechischen Behörden in der Regel nicht als "sicherer Herkunftsstaat" anerkannt. Erst etwa 500 Menschen wurden seit Mitte März wieder in die Türkei zurückgeführt, selbstredend viel weniger als gekommen sind.

Die unweigerliche Folge: Auf den Inseln in der Ost-Ägäis sitzen schon etwa 14.000 Flüchtlinge und Migranten in sogenannten Hot Spots fest, obgleich es dort Platz für nur 7.450 gibt. Der Rest harrt in mittlerweile über 40 Camps in Nord- und Südgriechenland aus. Auch sie sind meistens überfüllt.

Fast 2.500 Menschen hausen immer noch in der früheren Abflughalle des stillgelegten Athener Airports Hellenikon - unter absolut inakzeptablen Bedingungen. Die Regierung Tsipras hatte angekündigt, das Horror-Lager bis Ende Mai aufzulösen. Nur: Nichts ist passiert.

Das lange Warten erzeugt Spannungen. In den griechischen Flüchtlingscamps liegen die Nerven blank. Anfang der Woche wurde das Camp Moria auf Lesbos angezündet. Moria wurde zu mehr als 60 Prozent zerstört. Ausgerechnet dort, wo noch der Papst für die Menschen betete. Es ist eine Zäsur. Die griechische Polizei nahm mehrere Camp-Insassen fest.

Angeblicher Grund für die Brandstiftung: ein Gerücht, wonach eine Massenabschiebung in die Türkei bevorstehe.

Überdies machen vor allem immer mehr Insulaner, angefacht von rechtsextremen Kräften wie die Goldene Morgenröte, vor Ort Stimmung gegen die Flüchtlinge und Migranten. Demos, Gewaltausbrüche, Polizeieinsätze: Die hässlichen Szenen gehören auf den ansonsten so malerischen Inseln in der Ost-Ägäis zuletzt zur Tagesordnung.

Wo bleibt Europas Solidarität?

Regierungschef Tsipras legt den Finger in die Wunde. Die EU-Kommission habe im Herbst vorigen Jahres doch versprochen, 160.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien in andere EU-Staaten umzusiedeln. Fakt sei: Bis dato seien erst 3.677 Menschen umgesiedelt.

Ferner seien nur wenige EU-Beamte, viel weniger als versprochen, nach Griechenland geschickt worden, um ihren griechischen Kollegen bei der Abwicklung der Asylverfahren unter die Arme zu greifen.

Griechenland, seit dem Frühjahr 2010 ohnehin faktisch bankrott, werde nun auch in der Flüchtlingskrise wegen seiner geographischen Lage schlicht bestraft, so die Lesart in Athen. Die Griechen fragen sich: "Wo bleibt Europas Solidarität?"

In Griechenland wächst die Angst davor, der EU-Türkei-Deal könnte endgültig zur Makulatur werden. Das Horrorszenario: Der Flüchtlingsstrom könne wieder so stark anschwillen wie im Sommer und Herbst 2015, nun aber mit geschlossener Balkanroute. Das Credo der Griechen lautet: "Wir schaffen das auf keinen Fall!"

Lesbos' Bürgermeister, Spyros Galinos, sagt, er sei weiterhin bereit, Flüchtlinge und Migranten zu beherbergen, aber maximal 3.000. Denn: So viele Plätze seien auf der Insel vorhanden, um die Menschen anständig zu versorgen. "Aber wir können nicht auch nur einen einzigen Menschen mehr aufnehmen", so Galinos, ein betont flüchtlingsfreundliches Stadtoberhaupt wohlgemerkt.