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Erst das Land, dann die Partei

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Die USA sind heute ein Land mit einem zunehmend dysfunktionalen politischen System - dabei gab es tatsächlich eine Zeit, in der Partei-Interessen dem Wohl des Landes untergeordnet wurden.


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Als Lee Hamilton vor 45 Jahren nach Washington kam, ein parlamentarisch noch unerfahrener Demokrat aus Indiana, unterlief ihm ein dummer Irrtum, der den Gesetzentwurf, für den er sich einsetzte, fast zunichte gemacht hätte. Gerald Ford, der damals Führer der Republikaner im Repräsentantenhaus war, beauftragte einen seiner Mitarbeiter, Hamilton beim Berichtigen des Fehlers zu helfen. Unglaublich aus Sicht des heutigen erbitterten Parteienhickhacks.

Hamilton schüttelte lächelnd den Kopf, als er mir diese Geschichte erzählte: Es gab in den USA tatsächlich einmal eine Zeit, in der Partei-Interessen dem Wohl des Landes untergeordnet wurden. Wie könnten die USA, heute ein Land mit einem zunehmend dysfunktionalen politischen System, jemals wieder zu dieser Idylle zurückfinden?

Mit dieser Frage konfrontierte ich Hamilton, weil er mit seinen 79 Jahren einer der Weisesten und Erfahrensten in Washington ist und weil er im November seine Koffer packen wird, um nach Hause zu fahren und ein Institut an der Indiana University zu übernehmen. Menschen wie Hamilton, die noch wissen, was eine effektiv arbeitende Regierung ist, trifft man immer seltener.

Als Antwort auf meine Frage, wie man gesunden Menschenverstand in dieser Zeit der wahnwitzigen Politik erhalten könne, nannte er mir ein einfaches Rezept, nämlich das Wohl seines Landes an die erste Stelle zu setzen: "Wenn man gewählt wurde, muss man in erster Hinsicht auf das Funktionieren und den Erfolg der USA schauen. Diese Haltung muss gefördert werden." Die Treue zur Partei dürfe erst an zweiter Stelle stehen.

Das mag naiv klingen, wie jemandem mit Depressionen zu raten, er möge doch fröhlich sein. Es führt uns aber zu einem wichtigen Punkt: Wenn es das Ziel des Politikers ist, das Wohl seines Landes zu vergrößern, dann muss er sich die Flexibilität erhalten, ganz pragmatisch Kompromisse zu schließen, um die anstehenden Probleme zu lösen. "Erstarrt ein Politiker in einer Haltung", warnte Hamilton, "verringert das seine Handlungsfreiheit." Einen Konsens zu erreichen, wird dann unmöglich. "Was ist mit der Mitte geschehen? Das ist die große Frage der heutigen Politik", fügte Hamilton hinzu.

Auch wenn die Politik der USA sich im Moment nahe am Nervenzusammenbruch zu bewegen scheint, Hamilton bleibt unerschütterlich. Der jüngste Fall: Der frühere Präsident des Repräsentantenhauses, New-

ton Gingrich bezichtigte US-Präsident Barack Obama eines "kenianischen, anti-kolonialen Verhaltens". Das Problem mit der heutigen Politik sei nicht nur, dass sie zu parteigebunden sei, sagte Hamilton - das waren Hubert Humphrey und Barry Goldwater, die führenden Ideologen seiner frühen Zeit in Washington, auch -, sondern dass sie gallenbitter ist und übelwollend.

Der Beginn dieses Niedergangs fällt mit dem Aufstieg der Interessengruppen zusammen. Zum Beispiel in der Agrarpolitik: Als Hamilton in den Kongress kam, gab es in diesem Bereich drei große Lobbying-Gruppen. Heute scheint jeder einzelne Handelsartikel seine eigene aggressive Lobby zu haben. "Und jede von ihnen verlangt, dass die Regierung etwas in ihrem Sinne tut."

Abschließend fragte ich Hamilton, ob die USA durch all diese politischen Probleme im Abstieg begriffen wären. "Dass die USA immer die Nummer eins sein werden, ist keineswegs bis in alle Ewigkeit eine ausgemachte Sache", antwortete er. Aber egal, ob die USA oben oder unten seien, "die Verpflichtung der Politiker bleibt die gleiche, nämlich für das Funktionieren des Staates zu sorgen".

Übersetzung: Redaktion Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post". Originalfassung