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Erst der zweite Blick offenbart die Krise

Von Eva Stanzl aus China

Wirtschaft

Unveränderte Betriebsamkeit im Finanzviertel. | Steigende Arbeitslosigkeit und soziale Not. | Hongkong. Wer die chinesische Metropole Hongkong besucht, hat auf den ersten Blick den Eindruck, die Krise habe nie stattgefunden. In den Bürotürmen auf der Zentralinsel Hongkong sind zu Mittag die Restaurants voll.


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Aus dem Luxus-Einkaufszentrum "Harbour City" auf der gegenüberliegenden Halbinsel Kowloon strömen am Abend die Menschen, volle Einkaufstaschen in beiden Händen. Und auf den Stränden tummeln sich Touristen aus China, die laut offiziellen Angaben mehr als die Hälfte von Hongkongs Tourismus-Einnahmen bringen.

Dabei steckt die Stadt in der "schlimmsten Rezession seit der Asien-Krise", erklärte Finanzminister John Tsang in seiner jüngsten Budgetrede. Für 2009 prognostizierte er ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung von zwei bis drei Prozent, was den prognostizierten Rückgängen in Österreich gleichkommt. Die Wirtschaft Hongkongs ist jedoch im ersten Quartal 2008 noch um 7,4 Prozent gewachsen (Österreich: 2,3 Prozent).

Krise: Finanz-Tsunami

"Financial Tsunami" nennen die Hongkong-Chinesen die Finanz- und Wirtschaftskrise - eine seismische Welle mit hoher Zerstörungskraft, aber mit absehbarem Ende.

Um den Tsunami abzufedern, setzt die Regierung der chinesischen Sonderverwaltungsregion unter anderem auf Bauprojekte. In der Nähe des Flughafens sind Dutzende Baukräne im Einsatz, um eine Satellitenstadt zu errichten. Die Wohnhäuser sollen 50 Etagen hoch werden: "Wir haben wenig Fläche und müssen in die Höhe wachsen", lautet das landläufige Argument. Und man will in Hongkong noch höher hinaus: Kürzlich hat die Verwaltungsregierung, die in Wirtschaftsfragen unabhängig von Peking entscheidet (siehe Kasten), 28 neue Bauprojekte genehmigt.

Während sich der österreichische Staat Kurzarbeit für 50.000 Beschäftigte 128 Millionen Euro kosten lässt, nimmt Tsang in seinem Budgetpaket 159 Millionen Euro für die Schaffung von 62.000 neuen Arbeitsplätzen in die Hand, speziell im Tourismus, im Bau und im Akademikertraining. Im März ist die Arbeitslosenrate auf fünf Prozent gestiegen. Zum Vergleich: Die EU weist nach jüngsten Zahlen vier Prozent aus.

Am härtesten trifft es die Ärmsten. Im Unterschied zum Luxus der Finanzdistrikte wohnen in anderen Stadtteilen tausende Menschen in sogenannten "Cage Homes". Für umgerechnet 100 Euro im Monat mieten sich meist Sozialhilfe-Empfänger vergitterte Betten, in denen sie schlafen und ihr Hab und Gut verstauen. Wer dagegen etwas mehr (bis zu 10.000 Euro) im Jahr verdient, kann mit seiner Familie eine Sozialwohnung um 350 Euro für 50 Quadratmeter beziehen.

Tabaksteuer erhöht

Mit einem Teil des 10 Milliarden Hongkong-Dollar (940 Millionen Euro) schweren "Maßnahmenpakets gegen die Finanzkrise" soll den Beziehern kleiner Einkommen geholfen werden. Die Mieten für Sozialwohnungen sollen um 20 Prozent herabgesetzt und die Energiekosten reduziert werden. Die Maßnahmen werden aus einer 50-prozentigen Erhöhung der Tabaksteuer finanziert.

Tsang bedauerte in seiner Budgetrede, dass "viele der großzügigen Maßnahmen vom Vorjahr" nicht wiederholt werden können. Das "Luxusproblem", einen Überschuss abbauen zu müssen, gebe es nicht mehr. Das Haushaltsjahr 2007/2008 hatte nämlich einen Budgetüberschuss von umgerechnet rund 10,9 Milliarden Euro oder 7,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gebracht. Der Außenhandel - überwiegend Re-Exporte von und nach Festland-China - hatte jahrelang zweistellige Zuwachsraten verzeichnet.

Nun sieht es anders aus. Wachstumsrückgänge des Viktoria-Hafens, dem die Festland-Häfen zunehmend Konkurrenz machen, kann die Luftfracht aufgrund der Wirtschaftskrise nicht mehr ausgleichen. Der Logistik-Sektor ist also ins Strudeln geraten. Dennoch behalten die 6500 ausländischen Firmen in Hongkong hier ihre Regional-Zentralen, vor allem aufgrund des britischen Rechtssystems und der hohen Verwaltungseffizienz.

"Spätestens Ende des Jahres werden wir wieder einen Aufschwung sehen. Schließlich wurde die Welle von den USA und Europa verursacht und nicht von Strukturproblemen hier", erklärt Helen Chan, die die Regierung der Sonderverwaltungsregion in Wirtschaftsfragen berät.

Singapur leidet stärker

Während Singapur, das ähnlich wie Hongkong von Dienstleistungen und Logistik lebt, wie eine böhmische Leinwand eingeht und heuer mit einem Schrumpfen der Wirtschaft von sechs Prozent rechnet, hat Hongkong engste wirtschaftliche Verflechtungen mit China. Dass die Stadt, in der Pferderennen ein Volkssport sind, damit das beste Ross im Stall hat, beweisen die Entwicklungen.

Zwar wurden die Wachstumsprognosen Chinas von 7,5 auf 6,5 Prozent herabgesetzt. Doch dank der Konjunkturprogramme werden Straßen, Bahnen und Kläranlagen gebaut. Die chinesischen Banken vergeben unvermindert Kredite, und der Konsum ist weiterhin stabil. Auch Banker aus europäischen und amerikanischen Instituten, die ihre Jobs verloren haben, setzen auf diese Karte. Statt daheim um einen neuen Job zu kämpfen, bewerben sie sich lieber bei Hongkongs Banken. Von denen ist noch keine zusammengebrochen.

Wissen

Seit der Rückgabe an China im Jahr 1997 ist Hongkong eine Sonderverwaltungsregion der Volksrepublik, deren Regierung unabhängig entscheidet, jedoch Gesetzesänderungen an Peking berichtet.

Die beiden Volkswirtschaften haben sich zunehmend verflochten. Hongkong hat seine Produktion in das südchinesische Perlfluss-Delta verlagert und sich zur Handelsdrehscheibe und zum Finanzzentrum der Volksrepublik entwickelt.

"Der Faktor China hat im Laufe der Jahre sein Gesicht verändert", erklärt die Wirtschaftswissenschafterin Helen Chan: "Unsere Strategie ist, den sich ständig ändernden Bedarf Chinas zu unserem Vorteil zu nutzen." Früher diente die Finanzmetropole als Sprungbrett für internationale Firmen, die nach China expandieren wollten. Heute managen Experten aus Hongkong auch den Wohlstand der Unternehmen vom Festland.

Seit Anfang 2004 ist der Vertrag über engere Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen dem chinesischen Festland und Hongkong (Cepa) in Kraft. Er gewährt Hongkonger Unternehmern und Finanzdienstleistern privilegierten Zugang zum Festlandmarkt. Teil des Abkommens ist die Öffnung Hongkongs für Bankgeschäfte mit der chinesischen Währung Renminbi (RMB). Langfristig geht es auch um den Handel mit in RMB gezeichneten Wertpapieren an der Hongkonger Börse. Diese ist nach der Marktkapitalisierung die siebentgrößte Börse der Welt. Über 50 Prozent der notierten Firmen kommen aus der Volksrepublik.