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"Erst Integration, dann Erweiterung"

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Buzek verteidigt neu gewählten Kommissionschef Barroso und EU-Skeptiker. | EU-Spitzenpolitiker für Pause nach Beitritten von Kroatien und Island. | "Wiener Zeitung": José Manuel Barroso war bei seiner Bestätigung als Kommissionspräsident auf die Stimmen der EU-Skeptiker aus Großbritannien, Polen und Tschechien angewiesen. Würden Sie es besser finden, wenn seine Kommission schließlich auch noch von den Sozialdemokraten bestätigt würde und es eine breite pro-europäische Zustimmung gebe?


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Jerzy Buzek: Es wird ganz ähnlich laufen wie bei der Abstimmung letzte Woche. Auch damals hat es eine breite Lissabon-Mehrheit für Barroso gegeben. Das Parlament wird seiner Verantwortung gerecht werden, die Institutionen müssen zu arbeiten beginnen.

Aber kann sich Barroso auch in Zukunft auf diese neue Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) verlassen? Die verfolgen ja zum Teil ganz andere Ziele, sind etwa gegen den Lissabonner Vertrag.

Sie wurden von europäischen Bürgern gewählt und sind Teil des Europäischen Parlaments. Daher sollten sie künftig auch verlässliche Partner im EU-Parlament sein. Natürlich ist es möglich, dass sie manchmal anderer Meinung sind. Aber Meinungsverschiedenheiten sind in der Demokratie absolut üblich.

Erwarten Sie eine stärkere zweite Amtszeit Barrosos mit neuen Schwerpunkten? Vor seiner Bestätigung hat er ja einige Dinge versprochen, die einen Kurswechsel bedeuten würden.

Ich bin nicht sicher, ob er wirklich andere Sachen vorgeschlagen hat, als in den letzten fünf Jahren.

Er hat sich die Regulierung der Finanzmärkte auf die Fahnen geheftet, nachdem er damit fast zu lange gezögert hatte; jetzt hat er auch versprochen, die Daseinsvorsorge zu regeln, was bisher nicht auf der Agenda stand und bei den gentechnisch veränderten Pflanzen will er den Mitgliedsstaaten plötzlich die Entscheidung über den Anbau freistellen.

Natürlich ändern wir alle unsere Meinung, wenn wir neue Erfahrungen machen. Über die freie Marktwirtschaft wissen wir heute mehr, als noch vor zwei Jahren. Daher hoffe ich, dass sich Präsident Barroso in einigen Punkten anders verhalten wird. Das hat er allen politischen Gruppen anhand seiner politischen Leitlinien detailliert vorgetragen. Die Unterstützung für ihn war am Ende auch deshalb so hoch, weil selbst Abgeordnete, die nicht seiner Meinung waren, ihm leichter zustimmen konnten, weil sie genau über seine Ansichten Bescheid wussten.

Welchen Nutzen hat eigentlich der Lissabon-Vertrag für Europa?

Er würde die EU effizienter machen und unsere Außenvertretung stärken. Wir sind die größte Wirtschaftsmacht in der ganzen Welt, größer als die USA. Wir sollten die globale Wirtschaft und Politik im Namen von 500 Millionen Bürgern entsprechend beeinflussen. Ohne Lissabon-Vertrag können wir das nicht.

Würde die Erweiterung mit dem Lissabon-Vertrag wieder in Schwung kommen? Derzeit herrscht eine ausgeprägte Erweiterungsmüdigkeit.

Der Lissabon-Vertrag ist keine Verpflichtung zur Erweiterung. Wir brauchen jetzt erst Integration, bevor wir damit fortschreiten. Ausnahmen sind kleine Länder wie Kroatien oder Island, die wir verkraften können. In jedem Fall müssen aber die Aufnahmekriterien erfüllt sein. Für Kroatien und Island könnte es in den nächsten paar Jahren so weit sein. Alle anderen Länder werden eine viel, viel längere Zeitspanne brauchen.

Was meinen Sie damit? Zehn, fünfzehn Jahre oder mehr?

Ich habe weder für Kroatien noch sonst ein Land eine Frist genannt, weil es unmöglich ist, sie vorherzusagen. Das gilt auch für die Türkei.

Hat die EU auch geographische Grenzen, oder wird die Erweiterung immer weiter gehen?

Jedenfalls sollten europäische Länder die Möglichkeit haben, der EU beizutreten. Und etwa die Ukraine ist zu 100 Prozent ein europäisches Land. Aber dabei handelt sich um eine sehr langfristige Perspektive.

Haben auch die Länder im Kaukasus wie Georgien, Armenien und Aserbaidschan eine Beitrittschance?

Wenn wir die Perspektive auf das gesamte 21. Jahrhundert erstrecken, könnte es diese Chance geben. Das kann man nicht ausschließen.

Sind denn die so genannten alten und neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union überhaupt schon richtig zusammengewachsen? Da gibt es bei Themen wie Finanzkrise, Klimaschutz oder dem Verhältnis zu Russland ja immer wieder ganz unterschiedliche Ansätze.

Die Zentral- und Osteuropäischen Länder haben andere Erfahrungen gemacht als der Rest von Europa. Das muss berücksichtigt werden. Und wir sind auf einem unterschiedlichen Entwicklungsstand, was den Lebensstandard betrifft. Doch unterschiedliche Meinungen und Standards gab es in der EU schon immer. Wichtig ist, dass wir gemeinsam die Verantwortung für die Zukunft Europas übernehmen. Das bedeutet nicht die Vereinheitlichung der Meinungen - das ist ein Unterschied.

Zur PersonZur Person

Jerzy Buzek (69) war als führendes Mitglied der Gewerkschaft Solidarnosc ab 1980 eine Ikone der friedlichen Revolution in Polen, danach war er von 1997-2001 polnischer Ministerpräsident. Seit 2004 sitzt der Chemiker für die liberal-konservative Bürgerplattform im EU-Parlament. Im Juli wurde er als erster osteuropäischer Politiker an die Spitze des Parlaments gewählt.