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"Erst jetzt kommst Du zu mir?"

Von WZ-Korrespondent Andreas Schneitter

Politik
Waffentrainings am Schießstand von Sharon Gats "Caliber 3" in der Nähe von Jerusalem haben seit den jüngsten Unruhen ungeheuren Zulauf.
© A. Schneitter

Israels Bürger wollen sich bewaffnen, seit die Zahl der Angriffe zugenommen hat. Dafür müssen sie trainieren. Und sich vom Colonel anhören lassen, warum sie erst jetzt kommen. Ein Besuch auf dem Waffenplatz "Caliber 3" südlich von Jerusalem.


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Jerusalem. Fast drei Jahre hat Miriam ihre Waffe nicht mehr in der Hand gehabt, nun ist es Zeit. Miriam, geboren in Brasilien, ist jüdische Siedlerin, ihr Haus steht auf einem Stück Land, das Israel 1967 im Sechs-Tage-Krieg erobert hat und seither, so haben es mehrere UN-Resolutionen bekräftigt, illegal besetzt hält. Land, auf dem einmal der Staat der Palästinenser entstehen soll. Jüdisches Kernland, würde Miriam sagen, nach Jerusalem sind es 18 Kilometer, nach Hebron 22. Miriam gehört nicht jenem militanten Teil der jüdischen Siedlerbewegung im Westjordanland an, die palästinensische Olivenbäume verbrennen und mit einer Waffe an der Hüfte jene Selbstgewissheit bezeugen, als hätte Gott persönlich das Land vor ihren Füßen ausgerollt. Miriam ist moderat religiös, sie trägt dunkelblaue Jeans, neongelbe Sportschuhe und eine hellblaue Fleece-Jacke, die man in den Hügeln um Jerusalem, wo das Wetter schnell umschlagen kann, öfter sieht. Nur ihr blaues, im Nacken festgeknotetes Kopftuch macht deutlich, dass sie nicht nur im Siedlungsblock von Gush Etzion wohnt, weil der Wohnraum von der Regierung subventioniert wird und deshalb günstig ist.

Die Siedlungspolitik ist einer der Gründe, warum sich seit Oktober der "Aufstand der Messer" entzündet hat. Meistens palästinensische Teenager, und meistens mit nichts außer einem Messer bewaffnet, greifen beinahe täglich jüdische Israelis an, in der Regel solche, die in palästinensischen Augen die Besatzungsmacht repräsentieren: Sicherheitskräfte und Siedler in Ostjerusalem und dem Westjordanland. Während die Sinnlosigkeit der Angriffe, die fast immer mit dem Tod enden, für Palästinenser die Verzweiflung ihrer Jugend offenlegt, die nichts anderes kennen als die Ausweglosigkeit der Besatzungspolitik, sehen Israelis die Attacken als neusten Ausbruch des arabischen Terrorismus - mit dem Ziel, möglichst viele Juden zu töten. Erst gestern, Montag, attackierten zwei junge Palästinenserinnen einen 27-jährigen Mann in Westjerusalem mit Scheren. Eine Angreiferin wurde von einem Polizisten erschossen, eine zweite verletzt. Der Mann wurde mit leichten Stichwunden ins Spital gebracht. Miriam, Psychologin mit Fachgebiet Traumatabehandlung, gibt ihrer ältesten Tochter Pfefferspray auf den Schulweg mit. Sie hat ihre Waffe wieder hervorgeholt. Und geht trainieren.

"Ja, es kommen mehr seitder neuen Intifada"

Ja, es kommen mehr seit der "neuen Intifada", wie Sharon Gat fast beiläufig die jüngste Gewaltwelle nennt. Wer die palästinensischen Teenager sind, die mit Messer in der Hand und dem sicheren Tod vor Augen sich auf israelische Soldaten und Zivilisten stürzen, warum sie ihr junges Leben für eine Tat hergeben, die nichts verbessern wird an der Lage ihrer Familien - das sind keine Fragen, die Gat umtreiben. Gat, weißes, kurz geschnittenes Haar, tiefe dicke Augenbrauen und eine Statur, der man die über zwanzig Jahre Dienst in Spezialeinheiten der israelischen Armee ansieht, interessiert nur eines: "Du fährst an eine Tankstelle, steigst aus dem Wagen, füllst den Tank und gehst in den Laden, um zu bezahlen. Plötzlich stürzt sich der arabische Tankstellenarbeiter mit einem Messer auf dich. Tust Du das Richtige?"

Das Richtige - dafür hat Gat seit 2002 "Caliber 3" aufgebaut, den größten privaten Waffenplatz im Land. Sieben Schussrampen, eine Fahrstrecke für Automanöver, zwei Hallen für Kampfsport. Und ein aus Karton und Spannplatten nachgebautes Stadtviertel mit arabischen Graffiti und Palästinenserflaggen an den Wänden, damit es echt wirkt für die Besucher. Und die Besucher kommen. Seit Anfang Oktober hat sich die Zahl der privaten Nutzer von "Caliber 3" vervierfacht. Sie lernen, dass man an der Busstation stets mit dem Rücken zur Wand stehen soll. Wie man die Dose mit Pfefferspray griffbereit versorgt. Wie man sein Auto fährt, wenn plötzlich Steine geflogen kommen. Und wie, wann und wohin man schießt, wenn eine "Gefahrensituation" auftritt. Gat zieht eine Pistole mit leerem Magazin aus der Schublade, streckt sie der Wand entgegen, als stehe er draußen auf der Trainingsrampe. Wichtig: Beine auseinander, Knie leicht gebeugt, sicherer Stand, der Finger ist am Abzug. Und bleibt dort. Geschossen, ruft Gat, Colonel in der israelischen Armee, "geschossen wird erst, wenn ich es sage! Wer ohne meinen Befehl schießt, macht sofort 60 Sit-ups im Sand."

Paranoia undSelbstbewaffnung

In einer Stadt im Norden Israels schoss ein Israeli auf einen anderen, weil er ihn für einen arabischen Angreifer hielt. In einer anderen Stadt im Süden lynchten Passanten nach einem Attentat einen eritreischen Asylsuchenden, weil sie glaubten, er sei ein Komplize des Attentäters.

Die Paranoia wächst mit der Zahl der Vorfälle, und mit ihr der Aufruf zur Selbstbewaffnung. Jerusalems Bürgermeister Nir Barkat ermahnte in einem umstrittenen Aufruf seine Mitbürger, ihre Waffe stets bei sich zu tragen, um für ein höheres Sicherheitsgefühl zu sorgen. Für ein Land, das für Männer wie Frauen einen obligatorischen Wehrdienst kennt, ist die Zahl der Waffen in Privatbesitz verhältnismäßig klein: Rund 170.000 private Waffenscheine sind lizenziert, prozentuell weitaus weniger als in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Das Prozedere, um einen Waffenschein zu erhalten, ist aufwendig, Kurse und Tests sind notwendig, ein psychologisches Gutachten wird verlangt, das Vorstrafenregister durchleuchtet, und alle drei Jahre muss man den Test wiederholen und neue Trainings absolvieren. Aber die Zahl der Waffenscheine wird steigen: Gemäß dem Innenministerium haben in den vergangenen Wochen bis zu 5000 Israelis eine Lizenz beantragt - pro Tag. Polizeiminister Gilad Erdan hat deshalb angekündigt, die langwierigen Lizenzverfahren abzukürzen. Der Aufruf des Bürgermeister habe nur daran erinnert, auf welchem Sicherheitskonzept der Staat Israel einst gebaut worden war, sagt Gat. "Man muss die Menschen trainieren, und dann muss man sie bewaffnen. Seit Ben Gurion diesen Staat gegründet hat, sorgten aufmerksame Bürger für die Sicherheit. Nicht die Polizei und auch nicht das Militär, denn die kommen erst, wenn es schon Tote gibt." Die Israelis hätten in den vergangenen, ruhigeren Jahren vergessen, was es bedeute, Israeli zu sein. "Wenn ein Neuer kommt und bei mir trainieren möchte, weil er sich sorgt wegen der Angriffe und nun eine Waffe will, frage ich ihn: Gab es denn vorher keine Angriffe? Flogen keine Steine, wenn Du durch Ostjerusalem fuhrst? Und erst jetzt kommst Du zu mir?"

Alles richtig, aberalles noch zu langsam

Es dämmert, vom nahen arabischen Dorf hört man den Gebetsruf des Muezzins, als Miriam ihre letzten Kugeln verschießt. Ihr Instruktor, früher Soldat unter Colonel Gat, nun sein Angestellter, hat mit ihr eine "Simulationsübung" durchgespielt, eine Alltagsszene: Sie tritt aus dem Supermarkt, in beiden Händen eine Tasche voller Einkäufe, der Tag war lang, sie ist müde und mit den Gedanken bereits zuhause - und dann schreit er auf: "Angriff! Pistole! Bereit! Schuss! Und stopp!" Miriam greift zur Hüfte, geht in die Knie, die Füße einen halben Meter auseinander. Und richtet ihre Waffe, eine Glock-Handpistole, Kaliber 9 Millimeter, auf die Zielscheibe vor ihr im Sandhügel. Alles richtig, aber alles noch zu langsam, sagt ihr Instruktor. "In diesen drei Sekunden bin ich bereits bei Dir und steche Dir das Messer in den Nacken."

Der Instruktor drückt ihr das Blatt der Zielscheibe in die Hand. 15 Schuss, zwölf im Ziel, gute Quote. Drei Dinge noch, Miriam: Ist die Situation bedrohlich? Wenn ja, sofort schießen. Ist die Polizei in der Nähe? Wenn ja, sich sofort zu erkennen geben, bevor man selbst ins Visier gerät. Und stets ein zweites Magazin dabei haben. "Du findest das unhandlich? Dann kauf Dir ein Ticket und flieg nach Rio de Janeiro und setz dich am Meer in den schönen Sand. Das hier ist der Nahe Osten", sagt ihr Instruktor. Miriam nickt, unterschreibt die Quittung für die Trainingseinheit und steckt sie, zusammen mit der Glock, in die Tasche. Sie wird wiederkommen.