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Erst vertrieben, dann verdrängt

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Nach 60 Jahren und neunjährigem Streit soll nun der Heimatvertriebenen des Zweiten Weltkriegs gedacht werden. In der Stadt, von der das Leid seinen Ausgang nahm. | Als Bernd Otto Neumann in dieser Woche von seiner Reise nach Warschau zurückkehrte, konnte er stolz darauf verweisen, den Widerstand der Polen gebrochen zu haben. Der 66-jährige "Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien" hatte sich mit dem polnischen Außenstaatssekretär Wladyslaw Bartoszewski (85) darauf geeinigt, die Front niederzureißen, die von den nationalistischen Kaczynski-Zwillingen gegen das Vertriebenen-Gedenken aufgebaut worden war. Polen wird das Projekt "Sichtbares Zeichen" nicht mehr boykottieren. Auch wenn es sich offiziell daran nicht beteiligen will, ist die Mitarbeit polnischer Historiker und anderer Wissenschafter nicht ausgeschlossen, sondern sogar erwünscht.


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Eine Frau brachte den Stein ins Rollen: die CDU-Politikerin Erika Steinbach, Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen und selbst Opfer von Vertreibung. Ihre Lebensgeschichte ist exemplarisch für das Problem.

Sie war gerade anderthalb Jahre alt, als ihre Mutter mit ihr und ihrer drei Monate alten Schwester aus dem damaligen Westpreußen flüchten musste. Ihr Vater war als Unteroffizier der Wehrmacht nach dem deutschen Überfall auf Polen im besetzten Rahmel (Rumia) stationiert, wo sie vier Jahre später zur Welt kam. (Auch Staatsminister Neumann war als Kind aus Westpreußen vertrieben worden.)

Seit Erika Steinbach vor zehn Jahren an die Spitze des Vertriebenenbundes gewählt wurde, verfolgt sie beharrlich das Ziel, in der Hauptstadt Berlin ein "Zentrum gegen Vertreibungen" zu errichten. Sofort waren bestimmte Kreise davon überzeugt, dass es sich nur um einen heimtückischen Anschlag einer Revanchistin gegen die offizielle Geschichtsschreibung handeln könne.

Der Zeithistoriker Arnulf Baring brachte dafür kein Verständnis auf: "Mit Hohn und Spott wurde immer wieder das doch verständliche, berechtigte Anliegen lächerlich gemacht, der zwei Millionen deutscher Frauen, Kinder und Greise zu gedenken, die in der Schlussphase des Weltkriegs elend zu Tode gekommen sind . . . Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer in der weiten Welt uns die Trauer über ermordete Juden, Polen, Russen, Roma, Sinti und andere glaubt, wenn wir uns gleichzeitig emotionslos den Schmerz um die eigenen Toten verbieten."

Das Zentrums-Projekt stieß in Polen auf "leidenschaftlichen, teils gar hysterischen Widerstand" ("Süddeutsche Zeitung"), Steinbach wurde auf dem Titel blatt des Magazins "Wprost" in SS-Uniform auf Gerhard Schröder reitend dargestellt. "Der Auslöser war die Politik Erika Steinbachs", erläutert der polnische Publizist Adam Krzeminski ("Polityka"). "Sie forderte sogar ein Veto gegen die Aufnahme Polens in die EU, solange Polen sich nicht für die Vertreibung entschuldige, den Vertriebenen ihr Eigentum zurückgebe und ihr Recht auf Rückkehr in die Heimat anerkenne . . . Auch wenn sich Steinbach davon später distanzierte . . ."

Mit der Idee eines Zentrums aber wollte Steinbach weltweit Vertreibungen und Genozide dokumentieren und ächten, nicht nur die der Deutschen. Der Bogen spannt sich von den Griechen, die 1913 aus Bulgarien und Anatolien verjagt wurden, über die Polen, die von Deutschen und Russen, und die Deutschen, die von Polen und Russen aus der Heimat vertrieben wurden, bis zu den Massakern auf dem Balkan am Ende des 20. Jahrhunderts.

Nun hat sich die Bundesregierung das Anliegen zu eigen gemacht und im Koalitionsvertrag das Projekt "Sichtbares Zeichen" festgeschrieben. Unter Federführung des Deutschen Historischen Museums soll dieses Dokumentationszentrum im nächsten Jahr eröffnet werden. Damit wird ein weiteres Kapitel des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen.