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"Erstaunlich, dass es so ruhig ist"

Von Ronald Schönhuber

Europaarchiv

Die Krise und der Rückzug des Staates hinterlassen eine No-Future-Generation. | Gewaltbereit ist aber nur ein sehr kleiner Kern. | Rom/Athen/Wien. Überall auf das dunkelblaue Sakko von Kostis Hatzidakis war das Blut getropft und auch im Gesicht des griechischen Ex-Verkehrsministers hatte der mit Steinen und Stöcken geführte Angriff der Meute sichtbare rote Spuren hinterlassen. | Auch bei Demonstrationen ist Österreich Insel der Seligen


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Nur mit knapper Not konnte Hatzidakis am Mittwoch von seinen Mitarbeitern vor den rund 200 prügelnden Linksaktivisten in Sicherheit gebracht werden.

Der Angriff auf den griechischen Ex-Politiker war vielleicht das sichtbarste Zeichen des derzeit in Europa stattfindenden Aufruhrs, aber bei weitem nicht das einzige. Im nordgriechischen Thessaloniki hatten Jugendlichen Brandbomben auf ein Gebäude der Zentralregierung geworfen und mehrere Banken und Geschäfte verwüstet. In Italien kam es, nachdem Premier Silvio Berlusconi das Misstrauensvotum überstanden hatte, zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Müllfahrzeuge wurden in Brand gesteckt, die Büros des Zivilschutzes von vermummten Jugendlichen gestürmt. Ausschreitungen wie diese hätte es seit den 70ern und 80ern in Rom nicht mehr gegeben, klagt Bürgermeister Gianni Alemanno.

Radikalisiert sich also derzeit der gewaltbereite Protest in Europa? "Erstaunlicherweise nicht", sagt Johannes Becker vom Zentrum für Konfliktforschung an der Universität Marburg. "Die soziale Lage der Jugendlichen verschlechtert sich in den marktwirtschaftlichen Ländern sukzessive und dennoch kommt es eigentlich zu keinen großen Aufständen, sondern es gibt nur leicht eruptive Ausschläge wie etwa vor drei Jahren in Frankreich oder jetzt in Griechenland und Italien." Selbst bei den großen Aktionen der Jugendlichen ortet Becker "keine strukturelle Gewalt". "Und das obwohl die jungen Menschen - wie derzeit in Italien - das Gefühl haben, dass die da oben sowieso machen, was sie wollen", sagt der Gewaltforscher, der in vielen Ländern Europas Hinweise auf eine No-Future-Generation sieht. "Der Staat zieht sich zurück. Es gibt keine systematische Förderung der Jugendlichen mehr, wie sie etwa noch in den 90ern in Frankreich oder Deutschland existiert hat."

Die friedliche Masse

Getragen wird die Gewalt bei Demonstrationen laut Becker von einem sehr kleinen Block. Protestforschern zufolge geht es dieser Gruppe aber oft nicht vorrangig um die Vermittlung der politischen Botschaft, sondern - wie es eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung nennt - um "die ritualisierte Beschwörung von Gemeinschaft". Auch die Abgrenzung von anderen Gruppen spielt laut der Untersuchung, die auf den Ausschreitungen zum 1. Mai basiert, eine wesentliche Rolle.

Doch selbst bei den für ihre Ausschreitungen berüchtigten G8-Gipfeltreffen gebe es nur einen winzigen gewaltbereiten Kern, sagt Konfliktforscher Becker. "Darum gliedern sich 99 Prozent der Leute, die gewaltfrei sind, die diskutieren und wohlmeinend die Welt verbessern wollen."

Beckers Einschätzung deckt sich in weiten Bereichen auch mit den Ergebnissen des Berliner Protestforschers Dieter Rucht, der sich intensiv mit dem massiven und teilweise von Gewalt überschatteten Protest gegen das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 auseinandergesetzt hat. Um die Motive und Hintergründe der auf die Straßen gehenden Menschen zu erfahren, hatten Rucht und sein Team unter den Demonstranten 1500 Fragebögen verteilen lassen. Mehr als die Hälfte der Protestierenden waren demnach zwischen 40 und 54 Jahren alt, jünger als 25 waren hingegen nur sieben Prozent. Und es waren vor allem Akademiker, die den Widerstand getragen haben. 98 Prozent der Demonstranten wohnten zudem in Baden-Württemberg. "Die Gruppe der reisenden Berufsdemonstranten", die manche Befürworter des Bahnhofsprojektes als Triebfeder des Widerstands sahen, habe es im Fall von Stuttgart 21 nicht gegeben, sagt Rucht.

In der Mitte angelangt

Ähnliches hat der Protestforscher auch für die deutschen Anti-Atom-Demonstrationen und die - auch derzeit wieder stattfindenden - Proteste gegen die Castor-Transporte herausgefunden. "Der Protest ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und breiter verankert als in den siebziger und achtziger Jahren", sagt Rucht in der "Süddeutschen Zeitung".

Trotz dieser relativ verallgemeinerbaren Tendenzen orten die Protestforscher aber auch unterschiedlich stark ausgeprägte Nährböden, aus denen das Protestpotenzial in den einzelnen Ländern Europas sprießt. Und dabei geht es nicht nur um Offensichtliches, wie dem Umstand, dass die Finanzkrise in Staaten wie Italien oder Griechenland zu wesentlich stärkeren Verwerfungen geführt hat als in anderen Ländern. "Während in Deutschland pro Nacht ein Auto brennt, sind es in Frankreich 30, ganz gleich, ob es Demonstrationen gibt oder nicht", sagt Becker, der in diesem Zusammenhang auf die schwierige Identitätsfindung arabischstämmiger Jugendlicher in den Banlieus Frankreichs verweist. "Diese Jugendliche haben zwar einen französischen Pass, aber nicht den Eindruck, dass sie der Staat auch will", sagt Becker. "Und das ist in der Tat ein riesiges strukturelles Problem."