Was sind Derivativ-Kontrakte auf | Finanzmärkten? | Ein vierstufiger Unterricht zum besseren Verständnis. | Wien . Es wird so viel davon gesprochen, aber bei weitem nicht jeder weiß, wovon die Rede ist: Was sind Derivativ-Kontrakte auf Finanzmärkten? Wozu dienen sie? Was kann man bei ihnen gewinnen - oder, natürlich auch, verlieren?
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 18 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Befragt man Google, so werden einem derzeit "ca. 58.500.000" Auskünfte angeboten. Deren Lektüre würde rund 50 Jahre benötigen; die Auskünfte wären dann wohl veraltet. Ich biete Ihnen an, Sie statt dessen in einem vierstufigen Unterricht mit den einfachsten Grundlagen des Themas Derivativkontrakte vertraut zu machen.
Erste Schulstufe : Die gesamte Wirtschaftswissenschaft hat es mit Zweiseitigkeiten zu tun. Es geht in ihr immer um gleichzeitiges Kaufen und Verkaufen, um gleichzeitiges Leihen und Borgen, um Nachfrage und Angebot. Ein Derivativkontrakt ist ein solcher zweiseitiger Finanzvertrag, der Ihnen ein Anrecht auf ein bestimmtes Teilrecht eines anderen Finanzvertrages gewährt.
Er ist ein aus den Rechten eines anderen Vertrages abgeleiteter Vertrag (to derive = ableiten). Zum Beispiel tauschen Sie über die Zeit veränderliche Zinsen in Yen gegen gleich bleibende Zinsen in Euro oder, einfacher, eine unbestimmte Geldsumme, die Sie später bekommen sollten, gegen eine sichere Geldsumme jetzt.
Wenn Sie ein Finanzmarktgeschäft tätigen, haben Sie notwendigerweise einen Geschäftspartner, mit dem Sie das Geschäft abschließen, etwa eine Bank. Was Sie gewinnen, verliert die Bank; was Sie verlieren, gewinnt die Bank.
Eine Aussage wie "Bei Derivativ-Handel kann man nur verlieren", ist, vordergründig betrachtet, unsinnig: Was die eine Hälfte von "man" verliert, gewinnt gerade die andere. Wenn Sie also beim Kauf eines Derivativkontraktes kräftig verloren haben, trösten Sie sich: Sie haben der Volkswirtschaft genützt, indem Sie für bezahlte Beschäftigung von Derivativkontrakthändlern gesorgt haben.
Verdienen, wenn Preis falsch angesetzt war
Wirklich verdienen, das heißt mehr verdienen als die Zinsen eines langfristig gebundenen Sparbuches, können Sie bei einem Derivativkontrakt nur, wenn dessen Preis in für Sie günstiger Weise falsch angesetzt wurde. Tröstlich für den Käufer ist, daß die Preise von Finanzkontrakten durchaus häufig "falsch" sind. Schon auf der ersten Schulstufe ist jedoch zu beachten, daß der Satz des Finanzberaters: "Hier habe ich eine viel versprechende Anlagegelegenheit für Sie!" ebenfalls zweiseitig zu verstehen ist. Durch den Verkauf an Sie will auch die Bank verdienen! Und daher verlangt sie eine meist sehr kräftige Gebühr.
Wenn Sie bei einem spekulativen Fonds kaufen, verlangt der Fondsmanager typischerweise vielleicht 20 Prozent des Gewinns als seinen Schnitt.
Somit können Sie beim Kauf eines Finanzmarktkontrakts nur dann gewinnen, wenn erstens der Preis ein gar nicht so häufiges "Schnäppchen" ist, also vom Markt zu niedrig angesetzt wurde (bzw. beim Verkauf der Preis überhöht ist) und wenn zweitens der noch weniger wahrscheinliche Fall eintritt, daß dieser Gewinn nicht von den Handelsgebühren aufgezehrt wird.
Zweite Schulstufe : Bisher sind wir davon ausgegangen, dass die Investoren überhaupt nur auf die Durchschnittserträge schauen, die sie langfristig erzielen können. Vor einem Jahr erreichten die Zinssätze für sichere zehnjährige Staatsanleihen in Euro-Land (dominiert durch Deutschland) mit 3,25 Prozent einen Tiefpunkt und sind inzwischen infolge des in Europa endlich beginnenden Aufschwungs ein wenig, nämlich auf gerade vier Prozent, gestiegen.
So niedrige Zinssätze sind historisch keineswegs ungewöhnlich, kennzeichneten sie doch bereits die meiste Zeit der großen Finanzmärkte des 18. und 19. Jahrhunderts.
Sie verführen freilich dazu, höhere Erträge versprechende, aber dafür natürlich riskantere Anlagen aufzusuchen. Weil die Risken bei vielen Finanzanlagewerten über die Zeit gesehen groß sind und bei ihnen daher risikoscheue Durchschnittsanleger dominieren müssen, konnte der Nobelpreisträger Prescott zeigen, dass, inflationsbereinigt berechnet, Aktienerträge in den USA über das ganze 20. Jahrhundert gemittelt, eine Rendite von durchschnittlich nur fünf Prozent abwarfen, um ein Viertel mehr als die vier Prozent Rendite der langfristigen Schuldverschreibungen.
Viele kleine Verluste, wenige große Gewinne
Und Derivativkontrakte, weil oder wenn sie noch riskanter sind, sollten eine noch höhere Rendite erbringen. Das heißt natürlich nicht, daß sie diese hohe Rendite immer, Jahr für Jahr, erbringen werden. Im Gegenteil: Riskant heißt, dass guten Erträgen auch Verluste gegenüberstehen. Stefan Schulmeister hat gezeigt (freilich für eine im Schnitt ungewöhnlich gute Anlageperiode), dass gerade das geschah: Devisengeschäfte, die oft in Form von Derivativen auftreten, erbrachten viele kleine Verluste, die überkompensiert wurden durch einige wenige große Gewinne. Bei der weniger optimal handelnden Bawag waren es umgekehrt viele kleine Gewinne und dafür einige große Verluste.
Es ist aber keineswegs sicher, dass auch heute noch bei riskanten Finanzmarkttransaktionen tatsächlich risikoentsprechend höhere Erträge lukriert werden.
Aktienboom und Auslandsgelder
Genau 70 Jahre nach dem letzten großen amerikanischen Aktienboom von 1925 bis 1929 erzielte man von 1995 bis 1999 beim nächsten großen Boom Kurssteigerungen von 25 Prozent jährlich (in Dollar gerechnet, fünf Jahre lang), somit insgesamt eine Wertsteigerung auf das Dreifache (1925 bis 1929 war es eine solche auf das Dreieinhalbfache.) Der Einstrom von Auslandsgeldern auf den amerikanischen Finanzmarkt trieb aber zusätzlich noch den Dollar-Euro-Kurs um fast zehn Prozent jährlich hoch, sodass der Euro-Europäer eine Kurssteigerung (in Euro gerechnet) von sogar jährlich 35 Prozent genoss. Wer also genau zum richtigen Zeitpunkt, Anfang 1995, einstieg und genau zum richtigen Zeitpunkt, Ende 1999, verkaufte, hätte sein eingesetztes Kapital auf das Viereinhalbfache vergrößert; oder, wenn er über die ganze Zeit 90 Prozent des Kaufpreises, verzinst zu 10 Prozent, als Kredit aufgenommen hätte, wäre sein Kapitaleinsatz von ursprünglich nur zehn Prozent auf das 25-fache angewachsen.
Hätten Sie hingegen die Finanzmarktwelle voll bis zum Ende des folgenden Abschwunges durchgekostet, wären also auch noch die drei Jahre von 2000 bis Ende 2002 in durchschnittlichen US-Aktien (also Dow Jones Werten) investiert geblieben, so hätten Sie in diesen drei Jahren volle 70 Prozent verloren - etwa die Hälfte davon in Aktienverlusten, die andere in Dollarkursabwertungen. Dann hätten Sie in diesen acht ungewöhnlich guten Jahren insgesamt nur eine durchschnittliche Aktienkurssteigerung von 3,8 Prozent jährlich lukriert - und das bei nur geringen zusätzlichen Dividenden.
Somit wären Sie besser ausgestiegen, wenn Sie Ihr Geld höchst konservativ in sicheren europäischen Staatsschuldverschreibungen angelegt hätten. Die meisten österreichischen Anleger schnitten freilich noch schlechter ab: Die stiegen nämlich erst Anfang 2000 ein und verkauften Ende 2002 (früher durften sie das kontraktgemäß nicht): Und da "verdienten" sie dann wirklich jenen Verlust von 70 Prozent ihres Anlagekapitals!
Warum aber investierten die Europäer - und noch mehr die Ostasiaten, Japaner und Chinesen - überhaupt in den USA? Weil wir inbesondere in Europa in einer lang anhaltenden Periode dessen leben, was der bekannte Finanzmarktexperte Karl Marx eine solche der Kapital-Verwertungsprobleme nannte.
Wir Mitteleuropäer sparen nämlich weit mehr als wir im Inland investieren können. Im Jahr 2005 legten die Deutschen volle drei Prozent ihrer Einkommen im Ausland an; und hätten sie diese Möglichkeit nicht gehabt, so hätten sie nicht einmal die sehr bescheidene Steigerung ihres Sozialprodukts erlebt, sondern dessen Schrumpfung hinnehmen müssen. Die Österreicher stopften 1,2 Prozent ihres Sozialprodukts in die internationalen Finanzmärkte, zwei Drittel ihres Einkommenszuwachses.
Und warum? Weil Deutsche und Österreicher sich höhere Finanzmarkterträge im Ausland erhofften, freilich im Endeffekt wohl vergebens.
Aber vielleicht gibt es noch hoffnungsträchtigere Finanzmarktchancen, eben die Derivative? Darüber werden wir auf der folgenden Schulstufe unterrichtet werden.
Dritte Schulstufe : Mindestens seit dem Jahr 2000 leben wir also in einer Welt, in der ein Großteil der Länder verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten für überschüssige Ersparnisse sucht, überschüssig im Vergleich mit den jeweiligen Investitionsbedarfen.
Nur die USA sind bereit, solche Kapitalüberschüsse von Deutschland und Österreich, von Brasilien und Indien, von China und Japan in der Höhe von gegenwärtig gigantischen 800 Mrd. Dollar jährlich - mehr als zweimal das Jahressozialprodukt Österreichs - aufzunehmen.
Wo gibt es rentable Anlagemöglichkeiten?
Dabei sind die USA ein äußerst riskanter Kapitalnehmer, welcher die Kapitalüberschüsse der restlichen Welt nicht produktiv verwendet, nicht in Realkapital investiert, sondern in privatem Konsum und militärischen Experimenten verschleudert. Wir leben seit 1973 in einer Welt ohne einheitliches stabiles Weltwährungssystem. Bis 1914 war dies das Gold und dann bis 1973 der (bis auf eine einmalige Abwertung 1933/34) in Gold gemessen stabile Dollar; danach gab es unüberschaubar vielfältige, auf das (gegenüber früher) Fünf- bis Achtfache gestiegene Währungsschwankungen.
2
http://www.wienerzeitung.at/bilder/artikel/06goldpreis.gif
Wir leben in einer Welt, in der die großen Banken nach rentablen Anlagemöglichkeiten für die ihnen reichlich aufgedrängten Sparmittel gieren, einer Welt, in der nach 1973 zu erwarten war, dass die weltwirtschaftliche Integration wegen der stark erhöhten Währungsrisken schrumpfen würde.
Das Gegenteil ist geschehen: Die weltwirtschaftliche Integration nahm weiter zu. Und wieso? Weil sich ein riesiger Markt, letztlich ein gewaltiger Versicherungsmarkt, aufbaute, der die gewaltig angewachsenen weltwirtschaftlichen Finanzrisiken im Detailhandel an unzählige Versicherungsgeber - nicht Versicherungsnehmer, sondern Versicherungsgeber - verhandelt. Diese Versicherungsgeber sind niemand anderer als die unzähligen Teilnehmer an Derivativgeschäften, bei manchen derselben auch nur die Partner auf einer Seite des Geschäfts.
Eine große Zahl von Finanzmarktteilnehmern fungiert als solche Versicherer weltwirtschaftlicher Risiken; und viele Banken haben in der Teilnahme an Derivativgeschäften eine neue, ihnen profitabel scheinende Geschäftssparte gefunden.
Kontrakte, die Risiko minimieren
Die Derivativgeschäfte haben die angeschwollenen weltwirtschaftlichen Finanz- und Währungsrisken auf ein erträgliches Maß reduziert; genau: im allgemeinen reduziert, zu manchen Zeiten allerdings ganz im Gegenteil auch kumuliert, also vergrößert. Wie bereits kurz dargestellt, sind Derivativgeschäfte definiert als Finanzkontrakte, die ein zugrundeliegendes Geschäft modifizieren. Vor allem lassen sich mit ihnen die Risken auf viele Partner aufteilen, weswegen das Geschäftsvolumen aller Kontrakte so groß ist.
Da gibt es zuerst einmal Kauf- oder Verkaufsoptionen. Optionen sind zweiseitige Geschäfte mit Versicherungsgeber und -nehmer, bei denen eine Seite einen erheblichen Einstiegspreis an die andere Seite bezahlt.
Und dann erhalten Sie bei einer Kaufoption von einem über die Zeit sich verändernden Preis nur denjenigen Teil des Preises, der über eine bestimmte Höhe hinausgeht; oder bei einer Verkaufsoption die Differenz, um welche der verwirklichte Preis unter eine bestimmte Höhe gefallen ist. Sie sind hier also Versicherungsnehmer und reduzieren mit Ihrem Versicherungskontrakt die Preisschwankungen, denen Sie ausgesetzt sind.
Wo eine Gebühr im Preis versteckt ist
Bei Optionen zahlen Sie einen gesonderten Einstiegspreis. Bei den folgenden Derivativen ist eine solche Gebühr im zu zahlenden Preis versteckt: etwa bei "futures" und "forward contracts", das sind Termingeschäfte, bei welchen Sie jetzt Bezahlung erhalten für einen unsicheren Geldbetrag, der Ihnen erst in der Zukunft zusteht. Wieder sind Sie der Versicherte, und die andere Seite versichert Sie gegen die Ungewißheiten der zukünftigen Zahlung.
Ein typischer Fall tritt im Exportgeschäft auf - mit einem Partner in einem anderen Währungsraum und daher mit schwankendem Wechselkurs. Der österreichische Exporteur verkauft zum Beispiel jetzt die Dollar, die er in sechs Monaten für seine gelieferte Ware erhalten soll und übernimmt damit insbesondere nicht das Währungsrisiko.
Im Falle von "Swaps" wird für eine bestimmte Periode der Ertragsstrom eines Finanzmarktpapiers gegen den eines anderen Finanzmarktpapiers ausgetauscht. Bei einem Währungsswap ist der Ertragsstrom des einen Wertpapiers obendrein noch ein solcher, der in einer anderen Währung als der eigenen ausgedrückt ist. Bei "Swaps" ist schon nicht mehr klar, wer wen versichert.
Dass private Anleger Staaten oder Banken versichern, ist eine Neuheit. Kein Wunder, dass diese Kontrakte besonders riskant sind: Ihr Zweck ist es ja, Staaten oder Banken Risiko abzunehmen. So haben Banken zum Beispiel zusammengebündelte Portefeuilles von schlechten Krediten verkauft; und der die Bank versichernde Käufer hofft, einige dieser dubiosen Kredite noch ganz oder teilweise hereinzubringen.
Erfolgsgeschichte Zins-Swaps
Die größte Erfolgsgeschichte der letzten 20 Jahre waren schließlich Zins-Swaps, bei denen ein Strom von Zinszahlungen gegen einen anderen Strom von Zinszahlungen ausgetauscht wird. Sie machten zeitweise mehr als die Hälfte der Derivativverträge aus. Und hier ist typischerweise der nichtbankmäßige Anleger der Versicherer, bei einem Risiko, das der Bank selbst zu groß ist. Ebenso gibt es Geschäfte, in denen versucht wird, Preisunterschiede derselben Finanzanlage auf verschiedenen Börsen auszugleichen.
Gerade zu solchen Zins-Swaps gibt es das instruktivste Beispiel eines Derivativgeschäfts gigantischen Ausmaßes, welches danebenging; und die durchaus mögliche, daraus resultierende Weltfinanzkatastrophe gemeinsam mit einem seiner Mitdirektoren abgewehrt zu haben, ist nicht das geringste Ruhmesblatt des soeben ausgeschiedenen amerikanischen Notenbankpräsidenten Alan Greenspan.
Es war dies die traurige, aber wahre Geschichte eines Unternehmens mit dem Namen Long-Term Capital Management (LTCM), eines großen Fonds, in dem nur ganz reiche Leute große Summen investieren durften.
Der Fonds hatte eine lange Geschichte außerordentlicher Erfolge, und seinem Management gehörten die beiden Ökonomie-Nobelpreisträger des Jahres 1997 an - nicht einmal ein Jahr später waren sie und der genannte Fonds pleite, genauer: schlechte Schuldner, die gerade noch vor dem Bankrott bewahrt geblieben waren.
1997 trat die Ostasienkrise ein, also der Finanzzusammenbruch von Thailand, Indonesien, Südkorea usw. Er führte dazu, daß die Zinssätze, die diese Länder zahlen mußten, hinaufschnellten. LTCM spekulierte nun stabilisierend (!) darauf, dass die Überhöhung dieser Zinssätze bald reduziert würde.
125 Mrd. Dollar von den größten US-Banken
Das Eigenkapital von LTCM betrug Anfang 1998 5 Mrd. (!) Dollar. Für ihre stabilisierende Zins-Swap-Spekulation liehen 14 der größten Banken der Welt - angeblich einschließlich einer europäischen Notenbank - an LTCM mehr als 125 Mrd. Dollar. Man beachte: das 25-fache des Eigenkapitals, also hochriskant! Damit finanzierte LCTM Anfang 1998 Derivativkontrakte zur Zinsstabilisierung von rund 1170 Milliarden Dollar, im Umfang also (in heutiger Währung gemessen) mehr als dreimal das gesamte Sozialprodukt Österreichs im Jahr 2005.
Entgegen den Erwartungen gingen aber die überhöhten ostasiatischen Zinssätze nicht zurück, und Mitte August 1998 ging Russland weitgehend in Staatskonkurs und wertete den Rubel scharf ab. Bis Mitte September hatte LTCM fast 90 Prozent seines Eigenkapitals verloren und seine Zahlungen faktisch eingestellt.
Das Problem wurde noch komplizierter dadurch, dass für Derivativgeschäfte das normale US-Konkursrecht nicht gilt. Die Lösung erfolgte derart, dass die kreditgebenden Banken überredet wurden, 90 Prozent von LTCM zu übernehmen und dafür auf Kreditrückzahlung zu verzichten.
Die Ironie der Geschichte war, dass zwei bekannte jüngere Ökonomen, Shleifer und Vishny, im meistgelesenen wissenschaftlichen Finanzmarktjournal genau das, was LTCM geschah, als keineswegs auszuschließende Möglichkeit prognostiziert hatten, und zwar neun Monate, bevor LCTM seine Kontrakte abschloß, und eineinhalb Jahre, bevor LCTM zusammenbrach.
Anscheinend glaubten also die beteiligten beiden Nobelpreisträger nicht, dass ihnen das passieren würde, was immer wieder einmal geschehen kann.
Vierte Schulstufe : Jetzt gilt es, das Ausmaß des Risikos in der Zukunft abzuschätzen. Die bange Frage lautet: Haben nicht viele der verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten spähenden großen amerikanischen Banken zu viele Risken übernommen, unterschätzen sie also das Ausmaß der weltwirtschaftlichen Finanzmarktrisiken? Ja, noch mehr, stellt das wirtschaftlich größte Land der Welt, welches gleichzeitig das größte Schuldnerland ist, nicht ein gewaltiges weltwirtschaftliches Zahlungsrisiko vor?
Noch nie in der Geschichte war das reichste und finanzstärkste Land der Welt ein Schuldnerland. Da die amerikanischen Schulden in Dollar ausgedrückt sind, würde teilweise Nichtrückzahlung der Schulden einfach einen Wechselkurs-Crash bewirken - einen scharfen Verfall des Dollarkurses.
Die Zukunft ist ungewiß. Und eine Krise ist rein definitorisch etwas, das man zwar im Nachhinein genau zu verstehen meint, das aber im vorhinein unerwartet kommt. Denn wäre eine Krise vorhersehbar, so ließe die Schieflage sich beheben, so wie die potentielle Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch die Schieflage von LCTM, durch die amerikanische Notenbank behoben wurde.
20. Jahrhundert - eine Serie von Krisen
Was wir wissen ist, was der Nobelpreisträger Robert Mundell in seiner Nobel-Vorlesung, publiziert im Jahr 2000, herausstrich: Das 20. Jahrhundert war eine einzige Serie von Finanzmarktkrisen; und alle diese Finanzmarktkrisen gingen auf Fehler der US-amerikanischen Geldpolitik zurück. In den 1930er Jahren verzeichneten die USA die größten Sozialprodukteinbußen; damals waren sie weltwirtschaftlich das Gläubigerland. Diesmal sind die durch Finanzmarktzusammenbrüche besonders gefährdeten weltwirtschaftlichen Gläubigerländer die Ostasiaten, aber auch - wir!
Bei aller Ungewißheit können wir die vierte Schulstufe mit dem weisen Spruch abschließen: Non scholae sed vitae discimus! Wie, das verstehen Sie nicht? Dann müssen Sie jetzt ins Gymnasium gehen, um Latein zu lernen. Und wenn Sie dann mit Ihrem Latein am Ende sind?
Dann ist Ihnen zur gründlichen Analyse von Finanzmarktproblemen das Ökonomiestudium an der Universität Wien zu empfehlen. Immerhin haben dieses Studium ein Generaldirektor und zahlreiche Vorstandsdirektoren der österreichischen Banken und der Notenbank absolviert. Unter den vormaligen Bawag-Direktoren fanden sich freilich keine Absolventen dieses Studiums.