Zum Hauptinhalt springen

Erstmals EU-Gipfel im Kriegsgebiet

Von WZ-Korrespondent Andreas Lieb

Politik

Die Kommission ist bei Selenskyj zu Gast - Luftalarm in Kiew und weiten Teilen der Ukraine.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ursula von der Leyen ist zum vierten Mal seit Kriegsbeginn in Kiew. Dort ist am Freitag Luftalarm ausgelöst worden. Ob dieser Auswirkungen auf den Gipfel hatte, blieb zunächst unklar. Nicht weniger als 15 weitere Mitglieder der EU-Kommission sind über den beschwerlichen Weg via Polen im Nachtzug angereist. Der erste Vizepräsident Frans Timmermans ist bewusst nicht dabei. Er soll nach US-Vorbild als "Designated Survivor" die Amtsgeschäfte in Brüssel übernehmen, falls die Präsidentin - etwa nach einem russischen Angriff - das nicht mehr machen kann. Heute wird auch noch Ratspräsident Charles Michel zur Runde stoßen, wenn erstmals in der Geschichte der EU ein Gipfel in einem Kriegsgebiet stattfindet; freilich aber ohne die 27 Staats- und Regierungschefs.

"Wir sind hier, um zu zeigen, dass die EU so fest wie eh und je zur Ukraine steht", schrieb von der Leyen am frühen Morgen auf Twitter und hob damit die Symbolträchtigkeit des Treffens hervor. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj weiß um die Macht der richtigen Zeichen und Bilder.

Erst am Mittwoch ließ er Videos veröffentlichen, die Hausdurchsuchungen staatlicher Ermittler bei Oligarch Ihor Kolomojskyj und Ex-Innenminister Arsen Awakow zeigen, dabei sei es um Unterschlagungen in Höhe von rund 930 Millionen Euro und um fragwürdige Hintergründe im Zusammenhang mit dem Absturz eines Hubschraubers mit Awakows Nachfolger an Bord gegangen. In der Woche davor gab es große Umbauten im ukrainischen Staatsapparat. Mehr als ein Dutzend Beamter, fünf regionale Staatsanwälte, einer der stellvertretenden Verteidigungsminister und ein Präsidentenberater mussten den Hut nehmen.

Auch in diesen Fällen ist die Botschaft klar: Die Ukraine braucht weiterhin die Unterstützung der Westmächte und will in die EU, also setzt man plakative Zeichen im Kampf gegen die Korruption.

Doch was kann man nun vom Gipfel, den Selenskyj als "Europäische Integrationstage" bezeichnet, erwarten? Wunschdenken und Realität klaffen noch weit auseinander. Ein "EU-Beitritt in den nächsten beiden Jahren", wie der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal meinte, gilt als extrem unrealistisch. Da ändert auch nichts daran, dass mittlerweile der zweite von sieben definierten Punkten der Annäherung von Brüssel abgesegnet wurde. Sowohl die Kommission als auch die EU-Länder halten in der heiklen Frage aber nichts von einem Schnellverfahren, zumal auch ein Ende des Krieges nicht abzusehen ist.

Im Gegenteil: Kurz vor dem Jahrestag des Kriegsbeginns am 24. Februar verdichten sich die Anzeichen, dass Moskau neue Offensiven plant - offensichtlich auch aus symbolischen Gründen, um der eigenen Bevölkerung Erfolge vorgaukeln zu können. Zumindest das grüne Licht für einen Beginn der Beitrittsverhandlungen selbst könnte noch im Lauf dieses Jahres erfolgen.

EU will nächstes Sanktionspaket schnüren

Doch freilich hat Ursula von der Leyen etwas mit, wenn sie nach Kiew kommt. "Zwischen jetzt und dem 24. Februar, genau ein Jahr nach Beginn der Invasion, wollen wir ein zehntes Sanktionspaket fertigstellen", sagte von der Leyen bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Wolodymyr Selenskyj. Die bisher verhängten Sanktionen hätten der russischen Wirtschaft bereits beträchtlichen Schaden zugefügt, betonte die Kommissionspräsidentin. Allein der Preisdeckel für russisches Öl koste Moskau "etwa 160 Millionen Euro täglich". Für das bereits seit Dezember in der Vorbereitung befindliche neue Sanktionspaket werden etwa neue Einreise- und Vermögenssperren für Verantwortliche in Russland und dem verbündeten Belarus erwartet. Bereits am Sonntag soll zudem ein Preisdeckel für russische Mineralölprodukte wie Diesel oder Kerosin in Kraft treten, über dessen Höhe Vertreter der EU-Staaten noch beraten.

Bestätigt wurde in Kiew nun auch, dass die EU-Länder insgesamt 30.000 ukrainische Soldaten auf EU-Gebiet schulen wollen, doppelt so viele wie bisher vereinbart. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell sprach von einer "Spezialausbildung und technischer Unterweisung an neuer Ausrüstung, darunter Leopard-2-Panzern". 25 Millionen Euro gibt es als weitere Hilfe für die Minenräumung in den zurückeroberten Gebieten.

Schon weit gediehen ist die Aufnahme der Ukraine in den EU-Roaming-Raum, was auf beiden Seiten das Telefonieren, Schreiben von SMS und Datennutzung ohne Zusatzkosten erlauben würde. Derzeit gibt es eine freiwillige Vereinbarung zwischen europäischen und ukrainischen Mobilfunkanbietern, die erst diese Woche um weitere sechs Monate verlängert wurde. Chefverhandlerin für das EU-Parlament ist hier die österreichische Abgeordnete Angelika Winzig von der ÖVP. Und: Die EU liefert 35 Millionen LED-Lichter für Privathaushalte in die Ukraine.

Abgesehen von diesen Zusicherungen bleibt der Gipfel ein starkes Symbol des Zusammenhalts. Brüssel werde dennoch die Erwartungen in punkto Beitrittsgeschwindigkeit drosseln müssen, sagt EP-Vizepräsidentin Nicola Beer: Ein EU-Beitritt sei mehr als ein bloßes Etikett, es gehe um substanzielle Kriterien, die vorab erfüllt sein müssen. Mit Blick etwa auf Korruption sei klar, dass das von Kiew genannte Zeitfenster nicht realistisch ist: "Beide Seiten sind gefordert. Eine Überholspur an den Regeln vorbei durchzuboxen, wäre kein kluger Schritt."