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Das Bild des dreijährigen Aylan, der auf dem Weg nach Europa ertrank, löste Entsetzen aus. Doch das Sterben geht weiter.
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Kos. "Ich habe ihrer Mutter doch versprochen, dass ich gut auf sie aufpassen werde. Und jetzt, und jetzt..." Ali kann den Satz nicht zu Ende sprechen. Als der 33-Jährige auf sein Telefon guckt, bricht er in Tränen aus. Auf dem Display ist ein Foto seines sechsjährigen Sohnes Hussain und seiner vierjährigen Tochter Zainab. Zainab liegt zu diesem Zeitpunkt im Leichenhaus, Hussains lebloser Körper treibt irgendwo im Meer zwischen Kos und Bodrum. Die beiden Kinder sind im Arm ihres Vaters ertrunken, als er sie vor Krieg und Gewalt in Sicherheit bringen wollte. "Was hätte ich denn machen sollen?", entgegnet der Polizist aus Syrien auf den Vorwurf, den nur er selbst sich macht. "Wären wir im Irak geblieben, wären meine Kinder jetzt auch tot."
Die Tragödie ist nicht die erste, die sich heuer im Mittelmeer abspielte: Vor knapp drei Monaten ertrank der dreijährige Aylan aus Syrien. Er wollte mit seinen Eltern, die wie am Freitagabend bekannt wurde, in Kanada Asyl erhielten, nach Europa fliehen. Seine Leiche wurde an einem Strand in der Nähe des türkischen Badeortes Bodrum angespült, die Bilder lösten weltweit Entsetzen aus. Es darf keinen weiteren Aylan geben, forderten Politiker angesichts der Bilder des toten Kindes. Doch das Sterben geht weiter. Mindestens 3551 Flüchtlinge sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration heuer bereits im Mittelmeer ertrunken. Unter den jüngsten Opfern sind Zainab (4) und Hussain (6). Sie ertranken vor der griechischen Insel Kos in den Armen ihres Vaters.
8000 Euro für Überfahrtim Schlauchboot
An einem Checkpoint in Bagdad hatte Ali vor einigen Wochen mehrere in einem Auto versteckte Schalldämpfer entdeckt. Der Polizist ließ die vermeintlichen Attentäter festnehmen. Kurz darauf erhielt er einen Anruf seines Vaters: "Bei dir zu Hause sind maskierte Männer. Sie haben nach deinen Kindern gesucht. Sie wollen dich und deine Kinder töten." Ali nahm die Drohungen der mutmaßlichen Komplizen der von ihm festgenommenen Männer ernst, flüchtete mit Hassan (10), Hawra (9), Hussain und Zainab in die Türkei. Zwei Jahre zuvor war seine Frau an Herzversagen gestorben, ihr hatte er geschworen, die Kinder zu beschützen.
In der Türkei wurde der Vater von Menschenschmugglern angesprochen. Sie zeigten ihm das Bild einer großen Yacht. Das Boot sah vertrauenerweckend aus. "Für meine Kinder wollte ich das sicherste Boot. Dafür war ich bereit, jeden Preis zu zahlen", sagt Ali. 8000 Euro knöpften die Schleuser ihm für fünf Plätze ab. Kurz darauf brachten sie Ali und seine Kinder nachts an einen einsamen Strand in der Nähe von Bodrum. Doch statt einer seetauglichen Yacht lag dort ein altes, etwa drei Meter langes Schlauchboot. "Da gehe ich mit meinen Kindern nicht rauf", sagte Ali. Als er die Pistole eines Schleusers im Rücken spürte, ging er doch. Zusammen mit elf weiteren Menschen legte das Boot ab. Ein Scherge des Menschenschmugglerrings nahm Kurs auf die Lichter der nur wenige Kilometer entfernten griechischen Insel Kos.
Doch um ihren Profit zu steigern, hatten die Schleuser nicht vollgetankt. Als der Außenborder stotternd ausging, wurde der überladene Kahn manövrierunfähig. Wellen schlugen ins Boot, es verlor immer mehr Luft. Panik brach aus. Als ein Flüchtling die Küstenwache rufen wollte, schlug der Schleuser ihm das Handy aus der Hand. Das Wasser im Boot stieg, Hawra und Hassan klammerten sich am untergehenden Boot fest. Ali, der nicht schwimmen kann, versuchte, seine beiden jüngsten Kinder über Wasser zu halten. Doch Zainab und Hussein schluckten immer wieder Wasser, verloren im Arm ihres Vaters mehrfach das Bewusstsein. "Schlaf nicht ein", brüllte Ali seinen Sohn an. Hussein antwortete: "Papa, ich will schlafen."
Als nach Stunden endlich ein Boot der griechischen Küstenwache auftauchte, kletterten Hawra und Hassan entkräftet an Bord. Ali reichte den Rettern seine Tochter Zainab. Als er selbst an Bord gezogen wurde, entglitt ihm Hussain. "Mein Sohn! Er ist da im Wasser", schrie er. Doch in der Nacht konnte niemand den Sechsjährigen entdecken.
Als Ali seinen Blick vom untergehenden Boot abwandte, sah er an Deck des Rettungsbootes Zainab. Die Vierjährige atmete nicht mehr. "Sie sagten mir, dass sie in meinem Arm ertrunken war, aber sie haben nicht mal versucht, sie wiederzubeleben", erzählt der Vater, drei Tage, nachdem er zwei seiner Kinder verlor, unter Tränen. Für Hawra und Hassan versucht er, irgendwie zu funktionieren. Es gelingt ihm kaum. Nachts liegen die beiden Kinder in seinen Armen. Schlaf finden sie nur selten. Denn zur Trauer kommt die Angst. "Der Schleuser, der mit uns im Boot saß, wurde festgenommen. Ich habe gegen ihn ausgesagt. Danach erhielt ich einen Anruf der Menschenschmuggler aus der Türkei. Sie wollen mich und meine Kinder umbringen. Wir müssen hier weg. Außerdem kann ich den Anblick dieses Meeres nicht mehr ertragen", sagt der Vater.
Zu Zainabs Beerdigung kamen sechs Männer und eine Frau. Sie sind Flüchtlinge oder ehrenamtliche Helfer. In der Moschee beteten sie mit dem Imam für Zainab und ihren vermissten Bruder. Unterdessen brachte ein Lieferwagen den einbalsamierten und in Tücher gewickelten Leichnam in einem weißen Kindersarg zum muslimischen Friedhof. Als der Totengräber das Kind aus dem Sarg hob, zeichnete sich der Körper der Vierjährigen unter dem weißen Leinen ab. Zainabs Vater fiel schluchzend auf die Knie, küsste durch das Tuch ein letztes Mal seine Tochter.
Ali wird von Omar Mansour, einem griechischen Geschäftsmann mit ägyptischen Wurzeln, gestützt. Zainbas Tod macht ihn traurig und wütend zugleich. "Das Schleusergeschäft ist nichts anderes als organisierter Mord. Der Tod dieser Kinder ist eine Schande für die ganze Welt", sagt Mansour.
Hawra und Hassan waren nicht bei der Beerdigung ihrer kleinen Schwester. "Das wollte ich ihnen ersparen", sagt Ali. Er hatte Angst, dass seine Kinder am Anblick ihrer toten Schwester zerbrechen könnten. Ali: "Ich möchte nicht noch ein Kind verlieren."
Nachdem ihre kleine Schwester vor ihren Augen ertrank und sie ihren jüngeren Bruder in den Fluten untergehen sahen, haben Hawra und Hussein zunächst kaum gesprochen. "Am Anfang konnten sie nicht weinen. Sie waren einfach leer", sagt ihr Vater. Statt mit Worten versuchte der zehnjährige Hassan sich über Bilder mitzuteilen. Immer wieder malte der Zehnjährige dasselbe Motiv: Mehrere Menschen schwimmen auf dem Bild im offenen Meer. Einer von ihnen hält zwei kleine Kinder im Arm. Es ist Hassans Vater mit Zainab und Hussain. Auch sich und seine Schwester Hawra hat Hassan gemalt. Unter einem schwarzen Himmel versuchen sie, sich über Wasser zu halten. Auf dem langsam untergehenden Schlauchboot sitzt ein Mann mit Bart. Es ist der Schleuser. Am Rand ist eine dreiköpfige Familie zu sehen. "Die sind nicht mehr aufgetaucht", sagen jene, die im Boot saßen.
Die Tochter flüchtet in eine heile Traumwelt
Auch Hassans Schwester malt. Doch auf ihren Bildern sieht man keine ertrinkenden Menschen, sondern eine warme Sonne, grüne Bäume und bunte Blumen. Dazwischen hat sie glitzernde Prinzessinnen-Sticker geklebt.
Marina Spyridaki, Psychologin der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen", betreute Hassan, Hawra und ihren Vater unmittelbar nach dem Schiffsunglück. "Die beiden Kinder versuchen, das Erlebte auf ganz unterschiedliche Weise zu verarbeiten. Während Hassan malt, was geschah, flüchtet Hawra sich in eine heile Traumwelt", sagt die Therapeutin.
Mittlerweile ist Ali mit seinen beiden Kindern in Athen, die griechische Hilfsorganisation Praksis kümmert sich um die traumatisierte Familie. Rechtsanwältin Antonia Moustaka hat mit Ali für die Familie einen Antrag auf die von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorgeschlagene Umverteilung von Flüchtlingen gestellt. "Eigentlich wollten Ali und seine Kinderin die Schweiz, weil dort bereits seine Mutter, seine Schwester, sein Bruder und sein Neffe wohnen. Aber da die Schweiz kein EU-Mitglied ist, steht Deutschland jetzt ganz oben auf der Liste", sagt Anwältin Moustaka.
Weil Ali und seine Kinder wegen der traumatischen Erlebnisse auf der Flucht als besonderer Härtefall gelten, soll ihr Anliegen bevorzugt behandelt werden. Vielleicht können Vater, Tochter und Sohn schon in ein paar Wochen in Athen ein Flugzeug in ihre neue Heimat besteigen. Die Kosten für den Flug wird die Internationale Organisation für Migration übernehmen, Ali und seinen Kindern wird so zumindest die anstrengende Flucht über die Westbalkan-Route erspart bleiben. "Sie realisieren allmählich, was passiert ist. Zugleich versuchen sie, sich auf ihre Zukunft zu konzentrieren", sagt Antonia Moustaka.
Das Schicksal der Familie nimmt die Anwältin mit - auch wenn sie immer wieder mit Eltern zu tun hat, die auf der Flucht eines oder mehrere Kinder verloren haben. Einmal beriet sie eine Frau, bei der auf dem Meer die Wehen einsetzen. Weil das Kind im Geburtskanal stecken blieb, nahmen andere Flüchtlinge ein Messer zur Hand. Die Frau überlebte den Kaiserschnitt im Schlauchboot. Das Baby nicht.