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Erweiterung am Fuße der Akropolis

Von Martyna Czarnowska, Athen

Europaarchiv

Von den Geschäften und politischen Versammlungen, die rund tausend Jahre die Vorgänge in der Agora geprägt haben, ist schon lange nichts mehr zu merken. Doch seit gestern gleicht der antike Platz mehr denn je einer streng abgeschirmten archäologischen Stätte. Das historische Zentrum Athens ist abgesperrt, rund 10.000 PolizistInnen sollen für Sicherheit sorgen. Denn heute unterzeichnen die Staats- und Regierungschefs von fünfzehn derzeitigen und zehn künftigen EU-Staaten die Beitrittsverträge.


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"Die Prytanen speisen zunächst einmal auf Kosten des Staates in der Tholos zusammen, sodann berufen sie den Rat und die Volksversammlung ein; den Rat täglich, außer an Festtagen, die Volksversammlung viermal in jeder Prytanie. Sie schreiben dem Rat vor, worüber er zu verhandeln hat, die jeweilige Tagesordnung und den Ort der Sitzung. Sie setzen auch die Volksversammlungen an: eine Hauptversammlung, in der abgestimmt wird, ob die Beamten gut zu regieren scheinen, und ob über die Getreideversorgung und Verteidigung des Landes beraten wird."

Lang ist die Tradition der bedeutsamen Zusammenkünfte in der griechischen Agora, am Fuße der Akropolis. Aristoteles ist einer von vielen, die (in "Der Staat der Athener") die Vorgänge auf dem Platz beschreiben. In der Agora, Markt und Versammlungsort, Schauplatz von Gerichtsverfahren, wurde nicht nur Politik gemacht: Sie war rund tausend Jahre lang auch das wirtschaftliche und gesellschaftliche Zentrum des antiken Athen. Geschäfte wurden getätigt, in der Ringerhalle wurde geturnt, in der Philosophenschule lehrten Sokrates und Platon. Die Stoa des Attalos diente den Bürgern als Kaufhaus.

Wenn heute in dem Säulenraum die Staats- und Regierungschefs sowie AußenministerInnen der EU-Mitgliedsstaaten mit ihren KollegInnen aus zehn Beitrittsländern zusammenkommen, werden sie jedoch nicht über Getreidequoten oder - zumindest offiziell - eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik beraten. Auf der Tagesordnung steht die feierliche Unterzeichnung der Beitrittsverträge. Am 1. Mai 2004 sollen Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern der Europäischen Union beitreten - falls ihre BürgerInnen in den teils noch anstehenden Referenden dafür stimmen.

Es wird ein exklusiver Zirkel sein. Um die Stoa des Attalos vor dem Andrang der JournalistInnen zu schützen, hat die griechische EU-Ratspräsidentschaft den Zugang zur Zeremonie eingeschränkt. So groß das öffentliche Interesse auch sein mag - lediglich vom griechischen Fernsehen werden die Feierlichkeiten vor Ort übertragen. Die MedienvertreterInnen können sich damit trösten, dass das Pressezentrum um einen Platz errichtet wurde, der für Griechenlands Beziehungen mit der EU ebenfalls bedeutsam ist: Im Zappion wurde 1979 der Vertrag über den Beitritt Griechenlands zur EG unterzeichnet.

Mit den heutigen Unterschriften wird die bisher größte Erweiterungsrunde der EU besiegelt, wenn auch nicht abgeschlossen. Denn SkeptikerInnen weisen schon lange auf die fragile Funktionsfähigkeit eines Staatengebildes hin, das 25 Länder umfasst.

Streitpunkte gibt es schon jetzt etliche. So hat die polnische Regierung mit ihrer Loyalität gegenüber den USA beim Ankauf von Kampfflugzeugen und im Irak-Krieg Frankreich und Deutschland verstimmt. Der "Brief der Acht" und die Vilnius-Erklärung hatten die Spaltung Europas und der EU vor den Angriffen im Mittleren Osten offen zum Ausdruck gebracht. Mit ihrem Lob für die Teilnahme von polnischen Soldaten an den Kampfhandlungen hat Washington in Warschau noch zusätzlich für Verlegenheit gesorgt. Doch auch die EU-Staaten untereinander konnten keine gemeinsame Linie in diesem Streit finden. In Athen könnten sie wieder Einigkeit demonstrieren. Immerhin treffen hier auch der britische Premierminister Tony Blair sowie Frankreichs Präsident Jacques Chirac und Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schröder zusammen.

Weitere Diskussionen könnten ebenso Reformideen für den Verfassungskonvent auslösen. Deutschland und Frankreich sind mit ihren Vorschlägen auf wenig Gegenliebe gestoßen. Kleinere und mittlere EU-Staaten - unter anderen Österreich - haben sich bereits gegen die Einsetzung eines fixen EU-Ratsvorsitzenden ausgesprochen. Die Forderung nach Wahrung der rotierenden Ratspräsidentschaft unterstützen auch die Beitrittskandidatenländer - mit Ausnahme Polens.

Doch die Meinungsunterschiede werden heute kurzfristig hinter die Deklaration der Staats- und Regierungschefs treten. Diese werden in den Blickpunkt rücken, dass sie eine Nachkriegsordnung beenden, die den Kontinent Europa lange Zeit geteilt hatte.