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Erweiterung: Dolmetscher stoßen bei Politikern auf taube Ohren

Von Michael Schmölzer

Europaarchiv

Wien/Straßburg - Verschiedenste EU-Politiker weisen gerne darauf hin, dass Europa "mit einer Stimme" sprechen müsse. Was die tägliche Praxis im EU-Parlament angeht, kann davon ganz und gar nicht die Rede sein. Denn jeder Delegierte, egal aus welchem EU-Mitgliedsland, hat ganz selbstverständlich das Recht, sich in seiner Muttersprache auszudrücken. Möglich wird das durch ein Heer von topqualifizierten Simultandolmetschern, die, durch Glaswände vom Sitzungssaal getrennt, dafür sorgen, dass die Gestaltung Europas nicht zum biblischen Turmbau von Babel wird. Die Komplikationen der EU-Erweiterung vor Augen, proben Straßburgs Übersetzer jetzt allerdings den Aufstand.


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Einen Vorgeschmack auf das, was sie in Zukunft erwarten wird, erhielten die Dolmetscher des EU-Parlaments bereits am vergangenen Dienstag, anlässlich der ersten gemeinsamen Plenarsitzung aller Mitgliedsländer plus Kandidaten. Keine Frage, dass Pat Cox, Präsident des EU-Parlaments, ein guter Gastgeber sein wollte und seinen Besuchern den bestmöglichen Empfang bereitete. Das hieß selbstverständlich auch, dass die Vertreter aller Kandidatenländer in ihrer Muttersprache den Beitrittsprozess begrüßen bzw. verdammen konnten.

Die Dolmetscher des Europäischen Parlaments denken unterdessen ernsthaft daran, in den Streik zu treten. Das Problem: Statt den bislang elf offiziellen EU-Sprachen wird es ab 2004 fast doppelt so viele geben. Sollten ab 2007, wie geplant, auch Bulgarien und Rumänien der Gemeinschaft beitreten, dann wären pro Sitzungssaal gar 22 bis 23 Dolmetscherkabinen für ebenso viele Sprachen notwendig. (Auch das Türkische würde offizielle EU-Sprache, wenn es zu einer Vereinigung Zyperns käme.)

Ein Szenario, das deutlich macht, wie sehr die EU in ihrer Struktur durch die Erweiterung in Bedrängnis kommt. Denn kein einziger Sitzungsraum im EU-Parlament verfügt über die Kapazität, 23 Dolmetscherkabinen aufnehmen zu können. Die Konsequenz daraus ist, dass sich ein Teil der Übersetzer in einen anderen Raum verfrachtet findet und per Bildschirm dolmetschen muss.

Stress, frühe Erschöpfung

Die Schwierigkeit dabei ist, dass Simultandolmetschen per Bildschirm unvergleichlich mühsamer ist, als wenn der Übersetzer in direktem Augenkontakt zum Delegierten arbeiten kann, wie die österreichische Dolmetscherin Ingrid Kurz gegenüber der "Wiener Zeitung" erklärt: Die Erschöpfung setze früher ein, da man von der Kameraführung abhängig sei und die Mimik des Sprechenden oft zu spät, die Gestik und die allgemeine Stimmung im Saal oft gar nicht wahrnehmen könne. Wegen der Mehrbelastung müsse der Übersetzer öfter ausgetauscht werden.

Möglich wäre, mehr Personal einzustellen. Eine Variante, die die EU derzeit allerdings nicht berücksichtigen will. "Was für uns inakzeptabel ist, ist, dass man uns hier vor vollendete Tatsachen gestellt hat, obwohl wir seit Monaten mit dem Parlament eine Aussprache über dieses Problem fordern" ärgert sich Stephane Grosjean, oberster Interessenvertreter der Straßburger Dolmetscher in einem Interview mit der in Brüssel erscheinenden Zeitung "La Quinzaine".

Die offiziellen EU-Sprachen aus organisatorischen oder finanziellen Gründen zu limitieren, kommt derzeit aber nicht in Frage. Hat doch Kommissionspräsident Romano Prodi erst unlängst klar gemacht, dass er den Gebrauch der jeweiligen Muttersprache für eine fundamentale Voraussetzung für ein funktionierendes, demokratisches Europa ansieht.

Und Marco Benedetti, Leiter der Übersetzungsstelle in Brüssel, weiß die Bedeutung seines Berufsstandes medienwirksam zu veranschaulichen: "Wollen sie (als Regierungschef, Anm.) den Agrarpolitiker nach Brüssel schicken, der am besten Englisch kann, oder den besten Agrarpolitiker?"