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Erwin Wurm

Von Brigitte Neider-Olufs

Reflexionen
"Ich habe das Phänomen unserer breiten Welt ins Gegenteil verkehrt und das Haus meiner Eltern ganz schmal gemacht" (Erwin Wurm). Das Objekt ist ab 20. 10. im Essl Museum zu sehen. Foto: Studio Wurm

Der Künstler Erwin Wurm über seine neue Ausstellung, "Private Wurm", seine Verengungs-Projekte als Reaktion auf breite Medienrealitäten - und über den Ursprung seiner "One Minute Sculptures".


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Wiener Zeitung: Herr Wurm, im Jahr 2006 hatten Sie eine große Ausstellung im Wiener MUMOK, die durch ein auf dem Dach des Museums eingeschlagenes Einfamilienhaus schon von außen für Furore gesorgt hat. Stimmt der Eindruck, dass diese Ausstellung Sie bei einem breiterem Publikum bekannt gemacht hat? Erwin Wurm: Ja, mag sein. Selbst bemerkt man das ja nicht so. Ich habe gehört, dass es damals rund 100.000 Besucher waren. Mir ist aufgefallen, dass nach der Ausstellung auch Schauspieler, Tänzer, Filmemacher, Schriftsteller, also andere kreative Leute meine Arbeit kannten. Aber ein breiteres Publikum . . .?

. . . Im Sinne von allgemein an Kultur interessiertem Publikum, und nicht ausschließlich Fachpublikum. Hat der organisatorische Aufwand für Sie seitdem zugenommen?

Es hat eine Zeit gegeben, da habe ich alles noch selbst gemacht, beziehungsweise meine Galeristen. Die Organisation wurde immer aufwendiger, man muss auf Angebote und Anfragen reagieren und sich um die Logistik bei den Ausstellungen kümmern. Umso mehr man sich selbst mit solchen Dingen beschäftigt, desto weniger Zeit bleibt für die eigentliche Arbeit. Jetzt bin ich in der glücklichen Lage, dass das alles für mich gemacht wird - und das ist sehr angenehm.

Nächste Woche wird die Ausstellung "Private Wurm" im Essl Museum eröffnet. Worum geht es in dieser Ausstellung?

Es geht um meine Arbeit, die ich weiterführe und immer spannend zu halten versuche. Mir ist aufgefallen, dass unsere Welt immer mehr in die Breite geht. Es gibt diese ganzen Breitbildformate. Ich merke es immer wieder in Hotels, Restaurants oder wo immer gerade der Fernseher läuft: Die Welt wird zunehmend breiter. Niemand korrigiert dieses neue Fernsehformat. Die Leute schauen plötzlich auch so breit aus und passen sich in gewisser Weise dem amerikanischen Menschenbild an. Ich habe dieses Phänomen ins Gegenteil verkehrt und habe das Haus meiner Eltern ganz schmal gemacht. Alle Räume und Möbel sind ganz schmal und lang. Das Haus ist nur einen Meter breit, und es gibt drei 40 Zentimeter breite Zimmer hintereinander.

Kann man in das Haus hineingehen?

Man kann sich durchquetschen. Man sieht alles: das Elternschlafzimmer, das Bett, das Klo . . . Das Haus ist wie eine reduzierte, zusammengepresste Welt, es hat etwas Beengendes, Klaustrophobisches. Ich habe die Reihenfolge der Räume in dem Haus, wo ich gelebt habe, 1:1 nachbauen lassen.

Steht Ihr Elternhaus noch?

Das Haus steht noch, aber es ist verändert worden. Meine Schwester wohnt nun darin. Meine Eltern leben nicht mehr. Die Raumfolge ist noch dieselbe, aber es gibt andere Möbel.

Und der Anlass für das Reduzieren und Verschmälern dieses Hauses war tatsächlich ein durch die Medien verändertes Weltbild?

Das Haus habe ich für eine Ausstellung in China entwickelt. Zum einen hatte ich die Idee von der Verbreiterung unserer Realität, quasi als eine Reaktion auf die Medienrealität, zum anderen war aber auch die eingeschränkte Ausstellungsmöglichkeit im Museum in Beijing ein Grund dafür. Deshalb dachte ich an das Haus, das ich schon lange bauen wollte. Aber es hat auch mit einer Vision von Zukunft zu tun. Das Haus visualisiert auf zynische Weise, wie sich Architektur entwickeln könnte. In Wirklichkeit ist Raum nämlich etwas, das abnimmt, in den Medien hingegen wächst der Raum ständig.

Würde ich mich ohne diese Information durch Ihr schmales, klaustrophobische Zustände auslösendes Haus quetschen und wissen, dass es sich dabei um Ihr Elternhaus handelt, würde ich vermutlich zu dem Schluss kommen, dass diese Beengtheit mit Ihrer Kindheit zu tun hat.

Das mag sicher ein Aspekt sein. Bei meinen Arbeiten gibt es immer eine Einstiegsebene, die leicht verständlich und zugänglich ist, weil ich die Sprache und die Zeichen von Comic Strips und Science Fiction verwende. Die eigentliche Information hingegen ist versteckt - die muss sich der Betrachter erarbeiten, um das Werk richtig zu erfassen.

Eben diese Vielschichtigkeit macht Ihre Arbeit ja so interessant, das Intellektuelle, das Zynische . . .

Ich nenne es zynische Kritik. Durch einen gewissen Zynismus ist es möglich, Wahrheiten anzusprechen, die unangenehm sind und über die niemand gerne redet: die Unzulänglichkeit, die Hinfälligkeit, das Scheitern, das Vergehen. Mit dem Zynismus kann man solche Themen auf eine Ebene heben, auf der es interessant und spannend ist, darüber zu reden, und wo sich diese schweren Fragen zu klären beginnen, und zwar ohne Pathos.

Ich möchte noch einmal auf den privaten Aspekt dieses Haus zurückkommen . . .

Das Haus hat auch mit der Vergangenheit zu tun. Das österreichische Einfamilienhaus im Speziellen transportiert eine gewisse Haltung - und die geht mir ziemlich gegen den Strich.

Aber ist das nicht auch Teil Ihrer eigenen Realität gewesen?

Ja, da komme ich her. Deshalb sehe ich es ja auch und bin sensibilisiert. Es hat mit Österreich zu tun, mit dem Banausentum, dem geistigen "Neidertum", all diesen Dingen, die es bei uns heftig ausgeprägt gibt und die das Leben hier mühsam machen. Zu Recht haben die Österreicher diesen Ruf. Wenn sich das Land verbessern will, muss man die Dinge beim Namen nennen.

Ab wann ist Ihnen das aufgefallen?

Mit dem Reisen ist mir peu à peu aufgefallen, dass in Österreich der Umgang der Menschen miteinander komisch und unkorrekt ist. Dichter wie Thomas Bernhard wurden als Nestbeschmutzer beschimpft. Dabei war Bernhard gar kein Visionär, er war Realist, er hat die Dinge glasklar gesehen. Das ist natürlich empörend. Andererseit gibt es auch viele tolle Menschen in Österreich.

Was hat Sie dazu bewogen, Künstler zu werden?

Das kann ich gar nicht sagen, es ist irgendwie passiert. Ich war infiziert und interessiert - und dann ist es von selbst gekommen. Ich hatte eine glückliche Kindheit, aber die fand ohne Kunst und Intellektualität statt. Diese Welt hat für mich nicht existiert, ich habe sie mir dann selbst erobert. Mein Vater war Kriminalbeamter. In unserer Familie gab es zwar Ingenieure und Ärzte, aber keine Literaten oder Künstler. Irgendwann habe ich begonnen, mein Taschengeld in Büchern anzulegen, und ich habe viel gezeichnet und gemalt.

Hatten Ihre Eltern Verständnis dafür?

Ja, aber darüber wurde nicht geredet, das galt als Jugendtorheit. Als ich allerdings Kunst studieren wollte, haben die Türen geknallt. Mein Vater hat geglaubt, als Künstler stehe man schon mit einem Fuß im Kriminal. In den 70er Jahren wurde einem so ein Bild ja tatsächlich vermittelt: Im Fernsehen sah man entweder die Wiener Aktionisten oder den Fuchs mit seinem Kapperl oder den Leherb mit einer Taube auf der Schulter: lauter halbseidene Figuren. Die Berichterstattung war katastrophal. Aber ich wollte unbedingt Kunst studieren, war stur und habe es ertrotzt.

Haben Ihre Eltern Ihren Erfolg noch miterlebt?

Ja, ein bisschen. Sie sind 1996 gestorben. Meine großen Erfolge leider nicht. Schade, dass sie nicht mehr leben.

Zu Ihren bekanntesten Arbeiten zählen die "One Minute Sculptures". Was genau versteht man darunter?

Kurzlebige, performative Skulpturen, die nach meinen Anweisungen ausgeführt werden und sowohl ein Alltagsobjekt als auch einen Akteur oder eine Akteurin brauchen.

"One Minute" ist ein Synonym für "kurz". Es gibt verschiedene Ausformulierungen der "One Minute Sculptures": die Fotos, die Zeichnungen, also die Gebrauchsanweisungen, die Objekte und den performativen Teil, bei dem das Publikum selbst nach den Anweisungen eine Skulptur realisieren kann.

Wie kamen Sie auf diese Idee?

Die hat sich in den späten 80er Jahren entwickelt. Eine Skulptur wird durch eine Hülle definiert. Diese Haut oder Oberfläche kann als plastisches Prinzip aufgefasst werden. Auch Kleidungsstücke sind eine Art Haut. Mit Kleidung assoziiert man Dreidimensionalität. Füllt der Mensch sie aber nicht aus, fällt sie in sich zusammen, weil sie nur aus zweidimensionalem Stoff ist. Wir haben also unsere eigene Haut, Kleidungsstücke als zweite Haut und dann gibt es noch die Architektur als dritte Haut.

Begonnen habe ich mit Kleidungsstücken. Ich habe Objekte aus Pullovern gemacht: Mit zwei Nägeln habe ich sie so drapiert, dass sie nicht mehr Pullis, sondern etwas anderes darstellten. Es war relativ einfach, einem Pullover eine neue Ausdrucksform zu geben. Um diese Objekte zu Ausstellungen schicken zu können, habe ich Gebrauchsanweisungen angefertigt, anhand derer die Galeristen oder Kuratoren die zusammengelegten Pullover mit zwei Nägeln aufhängen konnten.

Diese drei Aspekte - Gebrauchsanleitung, kurzlebige Skulptur und Partizipation des Publikums, in diesem Fall Galerist oder Sammler - habe ich dann zu "One Minute Sculptures" weiterentwickelt.

Haben Sie vor den Pullover-Objekten auch noch mit anderen Stoffen gearbeitet?

Ja, zuerst habe ich mit Abfallmaterialien gearbeitet. Ich hatte ja kein Geld, und so habe ich aus Tischlereiabfällen und Brettern Skulpturen zusammengenagelt - Reiterstandbilder, Badende, Gehende, die ich auch bemalt habe. Ich hatte einmal gelesen, man müsste seine Lehrmeister und Väter überwinden, um Erfolg zu haben. Und so habe ich aus Trotz gegen die damals angesagte Kunst wie Minimal Art oder Konzeptkunst klassische Skulpturen gemacht, aber eben aus Wegwerfmaterial. Dann kamen die Staub- und Kleiderskulpturen. Davon ausgehend, hat sich das Thema bis hin zu den "One Minute Sculptures" ausgeweitet, wo ich mit allem gearbeitet habe, was vorhanden war: Möbel, Stifte, Besen, Orangen usw.

Wann sind Witz und Ironie hinzugekommen?

Die waren von Anfang an da. Die zusammengenagelten Badenden und Schreitenden hatten bereits etwas Schräges und Zynisches.

Menschen dazu zu bringen, sich Schwammerl in die Nase zu stecken, geht aber doch noch einen Schritt weiter.

1992 habe ich ein Video mit dem Titel "59 Stellungen" gemacht, in dem ein Freund und ich uns Kleidungsstücke auf ganz unübliche Art und Weise angezogen haben. Da sind zum ersten Mal Begriffe wie Lächerlichkeit und Peinlichkeit dazugekommen. Normalerweise möchte man tolle, ernsthafte Kunst machen. Ich habe aber gemerkt, dass das Lächerliche, Peinliche und Hinfällige wesentliche Zustände von uns sind, die mich mehr interessieren.

Und wie haben Sie die Leute dazu gebracht, solche Dinge zu tun?

Lange Zeit haben das Freunde getan. 1997 bei einer Ausstellung in Bremen habe ich das erste Mal alles mit Mitarbeitern und Gegenständen, die ich dort vorgefunden habe, realisiert. Und den Namen "One Minute Sculptures" habe ich in Bremen das erste Mal verwendet.

Kam das spontan, oder haben Sie es sich lange überlegt?

Absolut spontan, das passiert dann halt so. Der nächste Schritt war, mit den "One Minute Sculptures" ins Freie zu gehen.

Haben Sie dafür Passanten angesprochen?

Nein, ich habe per Zeitungsinserat Freiwillige gesucht.

Was stand in diesem Inserat?

"Künstler kommt in die Stadt, hat eine Ausstellung, macht in etwa solche Fotos, sucht freiwillige Modelle." (Zeigt auf Fotos.) Das war in Südfrankreich. Das waren alles Menschen, die sich freiwillig gemeldet haben. Ich habe versucht, auf die Leute, ihre Lebenssituation und ihre Umgebung einzugehen: Den Arbeitslosen habe ich zu Hause wie eine Pflanze hingestellt. Den Mann, der gegenüber dem Friedhof wohnte und erzählte, dass ihn die Toten durch ein Loch in der Friedhofsmauer quasi immer rufen, habe ich in dieses Loch gesteckt.

All das passiert eher automatisch, aus einer spontanen Intuition heraus. Später kann man dann in Büchern nachlesen, wie und warum man verschiedene Dinge gemacht hat, in Wahrheit ist das aber eine künstlerische Entscheidung, die sehr spontan passiert.

Ab wann haben Sie "Fat-Skulpturen" gemacht?

Ich bin immer auf der Suche nach neuen Dingen. Mich interessiert es nicht, bis zur Erschöpfung immer das Gleiche zu machen. Zu den dicken Autos und dem dicken Haus bin ich über die Beschäftigung mit dem Begriff des Plastischen gekommen. Wenn man eine Skulptur modelliert, verändert man das Volumen, man fügt etwas hinzu oder nimmt etwas weg. Wenn man zu- oder abnimmt, verändert man auch Volumen, also könnte man sagen, Zu- und Abnehmen ist Bildhauerei.

So bin ich auf eines der großen Themen unserer Zeit, die Fettleibigkeit, gestoßen - und in der Folge auf das Auto, eines unserer liebsten Identifikationsobjekte. Das Auto ist ein technologisches Objekt, das ja nicht wächst. So habe ich es mit dem Anthropomorphen, mit dem Organischen verbunden, quasi ein Zwitterwesen daraus gemacht. Und ich lasse das Auto auch sprechen, es wird personifiziert.

So ergibt eins das andre . . .

Ein Teil der Arbeit ist immer der Wille, ein Teil Überraschung. Gerhard Richter hat einmal gesagt, seine Arbeit sei intelligenter als er. Er meinte damit, dass die künstlerische Arbeit einen leiten kann. Manchmal ist man an einem Projekt dran und kann quasi zuschauen, wie es sich von selbst weiterentwickelt, und das lasse ich dann passieren.

Zur Person

Erwin Wurm, geboren 1954 in Bruck an der Mur, studierte Bildhauerei, Kunstgeschichte, Germanistik sowie Kunst- und Werkerziehung. Einem breiteren Publikum bekannt wurde er mit seinen "One Minute Sculptures", wo er Menschen mit Alltagsgegenständen auf skurrile Art posieren lässt, um sie dann zu fotografieren, und mit "Fat-Skulpturen", wo kleinbürgerliche Statussymbole wie Autos oder Einfamilienhäuser in einem "verfetteten", aufgeblähten Zustand gezeigt werden. Wurm arbeitet in und mit verschiedenen Medien: Objekte, Skulpturen, Installationen, Zeichnungen, Fotografien, Videos und Performance. Seit 1981 hatte Wurm zahlreiche internationale Ausstellungen in Galerien und Museen, u.a. in San Francisco, New York, Sydney, Tokio, Beijing. Von 2002 bis 2010 war er als Professor für Bildhauerei und Multimedia an der Universität für angewandte Kunst Wien tätig. Der Künstler lebt und arbeitet in Wien und in Limberg, Niederösterreich.

Von 20. Oktober bis 30. Jänner 2011 findet im Essl Museum in Klosterneuburg die Ausstellung "Private Wurm" statt, in welcher aktuelle, jüngst entstandene Werke zu sehen sind.

Brigitte Neider-Olufs, geboren 1963 in Wien, ist Kunsthistorikerin und seit 2004 für die Österreichische Nationalbank tätig. Gemeinsam mit Elisabeth Olivares Díaz hat sie das Buch "Österreichische Kunst in Bildern und Gesprächen. Die Sammlung der Österreichischen Nationalbank" (Verlag Christian Brandstätter, Wien 2010) herausgegeben.

Siehe auch:Skulpturen der zweiten Haut