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Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr. So könnte man die allgemeine Diskussion rund um die Kindererziehung zusammenfassen. Die Verunsicherung scheint heute größer denn je - unter anderem, weil es ein lukratives Geschäft ist, Erziehungsratgeber herauszubringen.
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Kinder müssen gehorchen, müssen lernen, schlafen, essen, sauber werden, … Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Eines wird dabei klar: Es gibt viel, was Kinder beherrschen müssen. Und wenn sie dies nicht tun, braucht man einen Schuldigen. Wie praktisch, dass es da die Eltern gibt. Und es gibt glücklicherweise auch noch eine Instanz, die weiß, wie es die Eltern machen sollten: die Erziehungsratgeber. Sie leben davon, dass sie Eltern zunächst breitenwirksam bescheinigen, dass sie unfähig seien, ihre Kinder zu erziehen, um sich dann als hilfreiche Experten anzubiedern.
Wer voll der Sorge um das Wohl seiner Kinder beginnt, Ratgeber zu lesen, ist bald noch mehr verunsichert als je zuvor. Scheinbar einfache Patentrezepte mit teils recht autoritären Vorgehensweisen werden da angeboten. Andere empfehlen die totale Symbiose, das Mitfühlen bei kindlichen Trotzanfällen, das Vorwegnehmen jeglicher Bedürfnisse. Kinder sollen sich selbst erziehen, möglichst ohne störendes Einwirken von Erziehungspersonen.
Zwischen partnerschaftlich und autoritär schwanken die Ratgeberautoren seit Jahrzehnten. Die besserwisserischen Bücher gibt es jedoch schon über hundert Jahre. Und genauso lange wird bereits über Richtig und Falsch in der Erziehung diskutiert.
Was aber unterscheidet die Situation heute von jener um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert? Gab es einst nur einen richtigen Weg, ist heute ein echter gesellschaftlicher Konsens zum Thema Erziehung nicht mehr verfügbar.
Vorsicht Patentrezept! Wie man Kinder richtig erzieht, das meinten Ratgeber schon Anfang des 20. Jahrhunderts zu wissen. Überließ man bis zum 19. Jahrhundert die Kindererziehung noch weitgehend den Familien, so wendete sich das Blatt massiv, als man von ärztlicher Seite Ende des 19. Jahrhunderts die hohe Säuglingssterblichkeitsrate auf mangelhafte Pflege und Disziplin der Eltern, vor allem der Mütter, zurückführte. Dies konstatiert Miriam Gebhardt in ihrem umfassenden Werk "Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen".
Fortan hielt die Medizin Einzug in der Erziehung, alles wurde vorgeschrieben: Schlaf- und Wachrhythmus, Essenszeiten, Toilettenbesuche. Schon der Säugling musste diszipliniert werden, sich anpassen, abgehärtet werden. Erziehung wurde zum Kampf zwischen Eltern und Kind. Elterntagebücher verzeichneten akribisch und teils in Tabellenform, ob das Kind sich normgemäß entwickelte. Alles wurde kontrollierbar, das Kind wurde in jeglicher Hinsicht bezwungen, teils mit drastischen Methoden.
Zweifel an der Brutalität der Erziehung gab es bei den Eltern noch kaum, fand Gebhardt nach der Analyse unzähliger Elterntagebücher heraus. Schließlich sah man die Kleinen als anfangs dumpfe, fast gefühllose Wesen. Ihre Tränen, ihr Geschrei hatten keine Bedeutung. Es gab einen allgemeinen Konsens darüber, wie Kinder zu erziehen waren. Die Zeit der Patentrezepte war angebrochen.
Harte Methoden. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war Johanna Haarers Machwerk "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind", das in den 1930er Jahren in Deutschland herauskam. Die Autorin, selbst Mutter und Ärztin und voll des nationalsozialistischen Zeitgeistes, propagierte den Vier-Stunden-Rhythmus beim Stillen und die gefürchtete Acht-Stunden-Stillpause in der Nacht. Wenn Säuglinge wagten zu schreien, gab es keine liebevolle Nähe. Vielmehr verlangte die Autorin: "Dann liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch", heißt es da. "Nach kurzer Zeit fordert es diese Beschäftigung mit ihm als ein Recht, gibt keine Ruhe mehr, bis es wieder getragen, gewiegt oder gefahren wird - und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig."
Haarers Buch wurde zum erfolgreichsten Erziehungsratgeber Deutschlands mit Millionenauflage und erschien auch nach dem Krieg wieder, mit nur leicht verändertem Titel: "Die Mutter und ihr erstes Kind". Die letzte Auflage ging noch 1987 in Druck. Die drastischen Erziehungsmethoden hielten sich über Jahrzehnte und spuken auch heute noch in vermeintlich moderner Literatur zum Thema herum.
Strenger Schlafplan. Wie hartnäckig sich die Methoden der 1930er Jahre halten, sei an einem kleinen Beispiel dargestellt. Ein viel diskutiertes, aber auch weit verbreitetes Ratgeberbuch zum Thema Einschlafen empfiehlt heute noch, Kinder, so sie nachts schreien, nicht aus dem Bett zu holen oder zu trösten, sondern sie besser schreien zu lassen. "Jedes Kind kann schlafen lernen", heißt das Buch. Autorin Annette Kast-Zahn spricht hier von Säuglingen, die strategisch planen, den Nachtschlaf ihrer Eltern zu stören. Erpressung sei das Mittel, das Baby der Täter und die Eltern selbst schuld, wenn sie dem nichts entgegen zu setzen hätten.
Die Autorin propagiert einen "Schlafplan" bzw. eigentlich ein geplantes "Schreien lassen", wobei die Eltern immer wieder ein paar Minuten ins Kinderzimmer gehen dürfen, um ihre Anwesenheit zu dokumentieren. Dann, so Kast-Zahn, kommt das Kind zu dem Schluss: "Ich strenge mich an und schreie und was passiert? Für das bisschen Zuwendung lohnt sich der Aufwand nicht. Da schlafe ich lieber."
Zwar würden einige Kinder stundenlang schreien, aber es lohne sich, ein bis zwei Wochen den Schlafplan durchzuhalten, dann würde sich der Erfolg einstellen. Die geistige Verwandtschaft zu einer Johanna Haarer lässt sich da nicht abstreiten. Der Kampf gegen den kindlichen Tyrannen hat nach wie vor Methode. Den Willen bereits bei Säuglingen zu brechen, ihnen Unarten auszutreiben, das verlangen vermeintlich moderne Erziehungsratgebern auch heute noch.
Antiautoritäre 68er. So hartnäckig hielt sich die autoritäre Erziehung, dass, um sie aufzubrechen und in Frage zu stellen, schon extreme gesellschaftliche Umwälzungen eintreten mussten. So propagierten die "68er" ihre politische Überzeugung bis ins Kinderzimmer. Sie integrierten den Glauben an die absolute Individualität und die Abkehr von der Autoritätshörigkeit in die Erziehung. Dem Kind sollte möglichst viel Freiheit in der Entwicklung eingeräumt werden und seinen Trieben völlig freier Lauf gelassen werden. Die klassische Kernfamilie wurde zugunsten mehrerer Bezugspersonen zurückgestellt. Auch die Eltern sollten sich einer Selbsttherapie unterziehen, um sich aus der Opferrolle der autoritären Erziehung der Nazizeit lösen zu können.
Dennoch beharrten auch die avantgardistisch denkenden 68er auf ihrem "Glauben an die Regelbarkeit und die Normativität", analysiert Miriam Gebhardt. "Die 68er-Erziehungsideologie war, was die früheste Kindheit angeht, rigide und in gewisser Weise die Negativfolie ihres Bezugspunktes." So sehr man sich also von der autoritätsgläubigen Erziehung lösen wollte, beharrte man doch auf dem Freudschen Modell: Das Kind wurde als triebgesteuert und narzisstisch gesehen und musste an eine feindliche Umwelt angepasst werden. Obwohl die Erziehungsziele "Gehorsam und Unterwerfung" nach 1968 immer seltener bei Befragungen genannt wurden, brachte die antiautoritäre Erziehung noch keine nachhaltige Veränderung in der Wahrnehmung des Kindes, so Gebhardt.
Psychoboom im Kinderzimmer. In den 1970er Jahren löste die Psychologie die Vorherrschaft der Medizin im Kinderzimmer ab. Ein "neues Kind" wurde geschaffen. Der Impuls kam zunächst aus den USA, wo der Kinderarzt Benjamin Spock bereits 1946 sein Buch "The Common Sense Book of Baby and Childcare" publiziert hatte, das dort ein großes Umdenken in der Erziehung brachte. In deutschsprachigen Landen dauerte dieses Umdenken länger. Erst nach dem Experiment der antiautoritären Erziehung war man auch hier bereit, neue Ideen zu akzeptieren.
Spock propagierte ein anderes Erziehungsideal: Eltern sollten ihren Kindern helfen, ihr Leben zu gestalten. Beim Erziehen gäbe es kein Richtig und Falsch, und im Übrigen wüssten Eltern selbst am besten, was ihnen und ihren Kindern gut tue, fasst Gebhardt seine Thesen zusammen.
Aber wie bereits bei der autoritären Erziehung schoss man auch im Rahmen des Psychobooms über das Ziel hinaus. Die Eltern-Kind-Beziehung wurde dermaßen emotional aufgeladen, dass besonders Mütter fortan die Verantwortung für jedes Versagen ihrer Kinder übernehmen mussten.
"Kritiker halten den Psychoboom bei der Erziehung für eine Folge der Konsumgesellschaft", so Miriam Gebhardt. Andererseits könne man die emotionale Neuausrichtung in Sachen Eltern-Kind-Verhältnis auch als Voraussetzung für verstärkten Materialismus sehen. Immerhin würden seither auch kindliche Bedürfnisse verstärkt mit materiellen Dingen befriedigt, gibt sie zu bedenken.
Eine Folge der Psychologisierung der Kindererziehung war jedenfalls ein explosionsartig anwachsender Markt für Elternratgeber in den 1970ern. Eltern hingegen verloren endgültig ihre Expertise und damit auch die Sicherheit im Umgang mit ihren Kindern. Andererseits gab es so aber auch mehr Möglichkeiten, die Erziehung individuell zu gestalten, eigene Wege zu finden. Erstmals bekamen Eltern die Chance, über Erziehung, nicht zuletzt über ihre eigene, nachzudenken.
Zurück zur Intuition. Nach dem Boom der wissenschaftlich-psychologisch angehauchten Erziehungstipps besann man sich schließlich wieder auf die Intuition der Eltern. Die Bindung zwischen Eltern und Kind wurde Ende der 1970er Jahre in den Vordergrund gestellt. "Bonding" rückte die Mutter wieder ins Zentrum der Erziehung. Mit modernisierungskritischen Tendenzen wetterte man gegen institutionalisierte Geburtshilfe und Säuglingspflege. Es hieß wieder, zurück zur Natur, zur natürlichen Beziehung zwischen Eltern und Kind. Damit wurde aber neuer Druck aufgebaut: Die neue Mütterlichkeit erdrückte all jene, die ihr nicht entsprachen, nicht stillen konnten oder wollten und damit ihrem Kind einen vermeintlich mangelhaften Start ins Leben verschafften - was natürlich wieder Spätfolgen haben musste. Als typisches Beispiel nennt Miriam Gebhardt hierzu die Stillfibel von Hannah Lothrop, die mit direkter Anrede und moralischer Mission Druck auf stillende Mütter ausübte. Was sie wiederum, geplant oder ungeplant, in direkte Tradition zu Johanna Haarer stellte. Wenn die Mutter dieses oder jenes nicht tat, drohten Spätfolgen, ein erfolgreiches Ratgeberprinzip also und bis heute gerne angewandt.
Wieder mehr Disziplin. Die Angst davor, etwas falsch zu machen, hat Erziehungsratgebern jeglicher Machart den Weg geebnet. Die bedenklichsten Tendenzen dabei waren und sind jene, bei denen vor dem Tyrannen Kind gewarnt wird, das diszipliniert werden muss.
So altbacken die Formel "Disziplin ist gleich Gehorsam ist gleich Respekt und Erfolg" bis vor wenigen Jahren noch geklungen haben mag, so verzeichnen wir derzeit wieder einen verstärkten Ruf nach ihr. Ob die "Tigermutter" Amy Chua in den USA wie Europa für Diskussionen mit ihren Brachialmethoden sorgt, ob Michael Winterhoff ("Warum unsere Kinder Tyrannen werden") und Bernhard Bueb ("Lob der Disziplin") in Deutschland angesichts der vermeintlich verwahrlosten Jugend nach mehr Disziplin und Grenzen rufen. Es darf wieder öffentlich über autoritäre Erziehungsmethoden nachgedacht werden. Die Ursache der aktuellen Erziehungskrise ortet man in der Disziplinlosigkeit. Partnerschaftliches Erziehen, zu viel Orientierung an den Bedürfnissen der Kinder sei dafür die Ursache. Eltern müssten wieder Autoritätspersonen sein, fordern die Autoren.
Wer heute wieder nach mehr Disziplin, Gehorsam und Grenzen in der Erziehung ruft, der muss sich gefallen lassen, dass man ihn zu dem Wort wieder befragt, gibt Miriam Gebhardt zu bedenken. Dann müsse man an die Vergangenheit erinnern, an all die Ratgeber, die dazu beigetragen haben, dass sich Eltern vor ihren kindlichen Tyrannen fürchten. Die aktuelle Empörung über Verwahrlosung und Erziehungsversagen sei letztlich auch Ausdruck des angekränkelten Selbstwertgefühls der Mittelschicht. Wie sie anhand ihrer historischen Untersuchung aufzeigt, hat all das eine lange zurückreichende Tradition.
Beziehung statt Erziehung. "Wenn sich eine Gesellschaft nicht mehr zu helfen weiß, erklärt sie die Strafe zum obersten Erziehungsprinzip und räumt der Charakterschulung durch Zucht und Zwang höchste Priorität ein", analysiert der Schweizer Wissenschafter, Arzt und Autor Remo H. Largo dazu treffend in seinem Werk "Kinderjahre". Um Gewalt und Fehlentwicklungen zu vermeiden, sei keine autoritäre, sondern eine an kindlichen Grundbedürfnissen orientierte Erziehung notwendig. Anhand der aufwendigen Zürcher Longitudinalstudien stellt er die natürliche Entwicklung von Kindern dar und zeigt auf, wo Erziehung ansetzen kann.
Largo betont die Unterschiedlichkeit sowohl von Kindern wie von Eltern, was ein breites Spektrum in der Erziehung verlange, keine Doktrinen. "Wären alle Kinder gleich, wäre Erziehung nicht gerade ein Kinderspiel, aber doch sehr viel einfacher", meint er. Die Vielfalt sei aber so groß, dass man einsehen müsse, dass es keine allgemeingültigen Erziehungsregeln geben könne. Je besser man sein eigenes Kind jedoch verstehe, desto einfacher sei es, einen geeigneten erzieherischen Weg zu finden. Beziehung komme in jedem Fall also vor Erziehung. Eine vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern sei Grundvoraussetzung dafür, dass Kinder gehorchen.
Fehlt es an Vertrauen, an Geborgenheit und Zuwendung, geht die erzieherische Kontrolle verloren, was nicht durch noch so harte Maßnahmen verhindert werden könnte, warnt der Schweizer Autor. Die wohl wichtigste Ursache der Erziehungskrise sei, dass eine beziehungs-
orientierte Erziehung zeitlich aufwendiger sei als eine autoritäre. Gerade an Zeit mangle es aber heute sowohl in den Familien wie auch in den Bildungseinrichtungen. Mehr Zeit für Kinder und eine Gesellschaft, die sich auf ihre Bedürfnisse einstellt, sei daher, so Largo, die einzig langfristig erfolgreiche Lösung.
Bücher
Miriam Gebhardt:
Die Angst vor dem kindlichen
Tyrannen. Eine Geschichte der
Erziehung im 20. Jahrhundert.
DVA; 25,70 Euro
Habilitationsschrift in Buchform, sehr informativ, gut recherchiert, aber liest sich auch wie akademische Fachliteratur.
Rudolf Dreikurs, Vicki Soltz:
Kinder fordern uns heraus. Wie
erziehen wir sie zeitgemäß?
Klett-Cotta; 14,95 Euro
Partnerschaftliche Erziehung
aus den 1960er Jahren in Reinkultur. Interessante Denkansätze, nur bedingt praxistauglich.
Annette Kast-Zahn:
Jedes Kind kann schlafen lernen. GU; 18,40 Euro
Autoritäres zum Thema "schlafen lernen", nur bedingt lesenswert.
Andrea Bischhoff:
Lexikon der Erziehungsirrtümer. Piper; 11,30 Euro
Vermeintlichen Erziehungswahrheiten auf der Spur. Zum Nachdenken und entspannter Erziehen für alle Betroffenen.
Remo H. Largo:
Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. Piper; 10,30 Euro
Fundiertes Hintergrundwissen, klar verständlich, gibt Eltern das Wissen, um individuelle Entscheidungen treffen zu können.
Renate Schediwy-Oppolzer:
Neugierig aufs Leben.
Wahrnehmungsförderung für Kinder bis zum 7. Lebensjahr.
Lit Verlag; 19,90 Euro
Wie bringt man Kinder dazu, ihre Sinne optimal zu entwickeln? Die Autorin, selbst Kindergärtnerin und Sprachheilpädagogin, gibt nützliche, praxisorientierte Ratschläge.