Die deutsche Regierungschefin Angela Merkel hat am Mittwoch wohl wenig freundlich an den überraschend zurückgetretenen Präsidenten Horst Köhler gedacht. Denn die Wahl zum deutschen Bundespräsidenten geriet - trotz spätem Sieg Wulffs nach neun Stunden und drei Abstimmungen - zum Fiasko für die Koalition aus Union und FDP.
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Die 1244 Wahlfrauen und -männer im deutschen Parlament haben das politische Leben im größten und mächtigsten Land der EU ab sofort verändert. Da die "Linke" den SPD/Grünen-Kandidaten Joachim Gauck schlussendlich nicht wählte, ist Christian Wulff ein Präsident, der es mit ihrer Hilfe geschafft hat. Was wollen CDU, CSU und FDP künftig einwenden, wenn in deutschen Bundesländern die Linke in rot-rot-grüne Regierungsverantwortung geholt wird? Die politische Debatte im Nachbarland wird sich vollkommen drehen.
Dazu kommt die erneut offenkundig gewordene Führungsschwäche von Merkel (und Westerwelle). Steuerpläne, Gesundheitsreform, die Wahl in Nordrhein-Westfalen, der grottenschlechte Umgang in der EU mit der Griechenland-Krise: Diese deutsche Koalition ist erst seit Oktober 2009 im Amt, aber sie schaut sehr alt aus. Noch am Mittwoch begannen CDU und FDP mit gegenseitigen Schuldzuweisungen, am Ende werden es wohl verzweifelte Durchhalteparolen sein.
Eine solche Regierung kann allerdings keine entscheidenden Weichen stellen, um aus der Krise zu kommen. Das ist auch für die Europäische Union eine schlechte Nachricht. Merkel wird in Zukunft viel in Berlin zu tun haben, um das bröckelnde Regierungsbündnis bloß zusammenzuhalten. Europäische Lösungen werden bei einer ums nackte Überleben kämpfenden deutschen Regierung wenig Chancen haben. Dazu kommt ein - ebenfalls zu Hause - angeschlagener französischer Präsident Sarkozy. Ohne Deutschland und Frankreich geht jedoch in der EU nichts. Dieser Ast ist innen morsch geworden, nur gehalten durch die dicke Rinde früherer Leistungen.
Die Wahl zum (machtlosen) deutschen Bundespräsident beeinträchtigt Europa, vor allem natürlich Deutschland. Die Regierung in Berlin kann sich derzeit nur an der Fußball-WM aufrichten - wenigstens bis Samstag Nachmittag…