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Es brennt im Schulsystem

Von Carsten Tergast

Gastkommentare

Schule muss wieder ein Ort für Bildung und freies Denken sein.


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Ein Mittwoch im Mai, ich stehe vor meiner 7. Klasse, die ich in Deutsch unterrichte, und habe das Gefühl, ich muss mich entschuldigen. Gestern lief etwas aus dem Ruder: Nachdem ich die Klasse bereits eine Doppelstunde unterrichtet habe, muss ich noch eine Vertretungsstunde für die erkrankte Englisch-Kollegin dranhängen, und in dieser dritten Stunde platzt mir der Kragen. Die Klasse ist unerträglich laut und unaufmerksam, die Übersetzung, die ich für diese Stunde vorgesehen habe, scheint niemanden zu interessieren. Also ermahne ich, werde laut und vergreife mich dabei einmal auch im Ton.

Als ich an diesem Mittwoch der Klasse sage, dass meine Wortwahl nicht in Ordnung war und ich mich dafür entschuldigen möchte, geht in der letzten Reihe verschämt ein Finger in die Höhe. "Ja, Mirko? Was möchtest du sagen?" Mirko: "Naja, sie waren vielleicht nicht sehr nett gestern, aber: Sie hatten ja vollkommen recht!"

Hatte ich recht? Nun, die bösen Worte hätte ich mir sicher besser verkneifen sollen, aber mit der grundsätzlichen Erkenntnis habe ich sicher recht: Es brennt im Schulsystem, an allen Ecken und Enden schwelt die Glut, und Corona hat viele Brandnester noch einmal, wie unter einer Lupe, deutlicher hervorgebracht.

Natürlich wird immer wieder einmal über die Probleme an Schulen geklagt und berichtet, meistens geht es dabei derzeit um das mangelhafte Tempo der Digitalisierung. Doch selbst eine Vollausstattung an Schulen mit modernsten Geräten für jeden Schüler und Lehrer würde die Bildungskrise nicht lösen. Diese manifestiert sich durch das Zusammenspiel vieler einzelner Brandherde im System, und daher kann auch nur eine ganzheitliche Analyse der Probleme im System echte Veränderungen anschieben.

Stark veränderte Sichtweiseauf die Aufgaben von Schule

So sind Mirko und seine Klassenkameraden ja keine schlechten Menschen. Sie wachsen nur in einer Zeit auf, in der es für Schüler immer schwieriger wird, dem Unterricht noch so zu folgen, dass ein spürbarer Bildungserfolg dabei herauskommt. Die Aufmerksamkeitsspannen werden durch die digitale Häppchenkultur immer geringer, auf Elternseite hat sich in weiten Teilen ein überbehütendes, distanzloses Verhalten durchgesetzt, Lärmbelastung etwa durch zu große Klassen leistet ihr Übriges. Wenn wir zu einer anderen Bildungskultur und zu einem effektiveren Schulsystem kommen wollen, müssen wir all diese Dinge im Zusammenhang sehen und das Problem somit auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig angehen.

Dazu kommt eine stark veränderte Sichtweise auf die Aufgaben von Schule. Allerorten ist heute zu hören und zu lesen, Schule sei eine Erziehungsanstalt, die den Schülern Haltung beizubringen habe. Hier liegt meines Erachtens ein grundsätzlicher Irrtum vor, denn die Aufgabe des Lehrpersonals kann niemals sein, die Schüler Haltung und Meinung zu lehren. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, den Schülern die Fähigkeiten an die Hand zu geben, das erworbene Wissen zu interpretierten, miteinander zu verbinden und somit eine eigene Haltung und Meinung zu entwickeln. Wird dieser Unterschied ignoriert, läuft Schule Gefahr, zur Ideologieschmiede zu verkommen. Das jedoch konterkariert jeden echten Bildungsbegriff, der sich gerade durch die Freiheit des Denkens auszeichnet.

Es ist eine Mammutaufgabe und nicht von heute auf morgen zu schaffen, aber: Schule muss ein Ort freien Denkens und Lernens sein, bei dem die (digitalen wie analogen) Rahmenbedingungen dazu dienen, diesem Anspruch auch gerecht werden zu können.