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Es darf ruhig ein bisserl mehr sein

Von Christof Habres

Wirtschaft
Mehr Wollen, um des Mehr-Wollens wegen. Blanke Gier fragt nicht nach rationalen Gründen und kennt keine Limits. Und sie ist meist eine menschliche Eigenschaft. Foto: corbis

Gier zieht sich als Antrieb durch alle Gesellschaftsschichten. | "Immer-mehr-wollen" als klares Zeichen kapitalistischer Systeme. | Eine kurze Geschichte individueller Gier. | Wien. Heinz M. steht verloren in der Lobby des Luxushotels an der Wiener Ringstraße. Vor kurzem ist die Hauptversammlung eines großen börsenotierten Immobilienkonzerns zu Ende gegangen. Und die brachte keine guten Nachrichten für Herrn M. Der Aktienkurs ist schon lange im Keller, das Management ist mit Schimpf und Schande in die Wüste gejagt worden, aber die Perspektiven des neuen Vorstands sind alles andere als vielversprechend.


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Dabei waren M. diese Papiere quasi als mündelsicher angeboten worden, garniert mit der Prognose einer zu erwartenden überdurchschnittlichen Wachstumsrate. Ein neuerlicher Rückschlag für M., dessen persönliche Gier nach Geld sich mittlerweile auf ein Minimum reduziert hat. Sie war schon deutlich größer gewesen.

Begonnen hat es bei Heinz M. Ende der 1980er-Jahre, als er als Student aus Kärnten nach Wien gekommen war. Neben seinem Studium arbeitete er in einer Bar. Zu dieser Zeit war es ungeheuer angesagt, in American-Bars abzuhängen. Diese Lokale waren fast jeden Abend zum Brechen voll. Heinz M. war ausgezeichnet als Barkeeper. Er konnte mit seinem ländlichen Charme die Gäste zu mehr Cocktails animieren, als sie ursprünglich zu konsumieren geplant hatten. Ein Umstand, der sich sehr positiv auf seine finanzielle Situation auswirkte und auf den Mitteilungsdrang der Gäste. Eine dieser Barfliegen, ein unabhängiger Finanzberater, führte ihn zu später Stunde in die Geheimnisse lukrativer Aktien- und Investmentspekulation ein. Nachdem er den Gast auf ein paar weitere Gläser eingeladen hatte, besaß M. einige todsichere Anlage-Tipps und einen Finanzplan. Sein Hunger, seine Lust auf ertragreiche Beute, waren geweckt.

Der Barkeeper als Finanzhai

In den nächsten Tagen plünderte er sein Sparbuch. Er eröffnete ein Wertpapier-Depot, gab seinem Kontobetreuer die ersten Order. Er war wahnsinnig stolz auf sich, dass er dies alles ohne teure Berater erledigt hatte, was ihm einiges an Gebühren und Provisionen erspart hatte. Der Ertrag gab ihm recht: Seine ersten Investments entwickelten sich prächtig.

Heinz M. wurde zunehmend hellhöriger, wenn sich Gäste in der Bar über Aktien oder alternative Investments unterhielten. Sein Spesenkonto wuchs aufgrund der Drinks-Einladungen an und seine Arbeitsstunden im Lokal wurden länger. Seine Tagesfreizeit verbrachte er meist mit dem Studieren von Börsenkursen und vor dem Computer - sehr viel mehr hatte nicht Platz in seinem Leben. Er wurde immer weniger zum Studenten und immer mehr zum Getriebenen. Interessanterweise in den ersten Jahren ohne ein bestimmtes materielles Ziel - wie etwa ein Auto, eine Eigentumswohnung, eine Reise oder sogar eine eigene Bar. Einzig und allein das zügige Anwachsen seines Kontostandes interessierte ihn.

Gierig kontrollierte er täglich den Wert seines Portfolios. Und er war nicht alleine, wie er - oft übernächtig - bei den vormittäglichen Hauptversammlungen der Aktiengesellschaften bemerkte. In den hinteren Reihen, jenen Reihen hinter den Vertretern institutioneller Anleger wie Banken, Versicherungen und Pensionsfonds, gab es ein nicht zu kleines Grüppchen "Normalsterblicher", die um jeden Preis mehr, am liebsten viel mehr aus ihrem Ersparten, ihrer Abfindung oder der Erbschaft der Eltern machen wollten. Am Buffet kam man miteinander ins Gespräch, tauschte sich aus, natürlich spärlich und gezielt. Und man erzählte einander von der Freigiebigkeit anderer Hauptversammlungen. In diesen Jahren war es noch üblich, dass Unternehmen die Teilnehmer der Hauptversammlung für ihre Treue mit üppigen Geschenkkörben belohnten. Heinz M. erinnert sich gerne an das Leuchten in den Augen der Mitaktionäre, das zwischen lustvoller Gier und Rührung changierte. Für ihn war es eine zeitintensive, aber lukrative Nebenbeschäftigung. Eine Beschäftigung und kein Verdienst, da er seine ausgewiesenen Gewinne meist reinvestierte und nicht realisierte in dem inneren Trieb, noch mehr daraus zu machen.

Gier hat weder Ziel noch Limit

Sein Studium und seine Beziehung litten erheblich darunter, wie er freimütig gesteht. Zuerst verabschiedete er sich von Ersterem, etwas später sich die Freundin von ihm. In seiner damaligen Vorstellung würde sich alles ändern, wenn er einmal genug Geld auf dem Konto hätte. Die Frage "Wie viel Geld wäre denn für ihn genug gewesen?" kann er nur mit einem vagen "von bis" beantworten. Und wofür er es denn gerne verwendet hätte, noch weniger.

Wenn er etwas von seinem Konto abseits der Lebenshaltungskosten abhob, dann für neue Computer, Mobiltelefone und schnellere Internetanschlüsse. Mit den Jahren hatte er sich zwar ein überdurchschnittliches finanzielles Polster geschaffen, der große Coup war ihm noch nicht gelungen. Einer, der sein Verlangen, die Zahl auf dem Konto immer weiter zu steigern, so weit befriedigen sollte, dass er seinen Job aufgeben können würde, um von den Zinsen zu leben. Ein Wunschtraum? Nicht für Heinz M. Einmal mehr erwies sich sein Arbeitsplatz als persönliche Informationsbörse. Ein Typ aus der Steiermark erzählte ihm etwas von einer Internetfirma, die mit Sicherheit groß rauskommen würde. Wetten im Netz, oder so. M. hatte noch nie etwas davon gehört, vertraute jedoch dem Mann nahezu blind, löste den Großteil seiner Aktienpakete auf und setzte auf diese eine Karte.

Vom Coup zum Absturz

Die nächsten Jahren sollten ein Parforce-Ritt der Sonderklasse werden. Das Papier stieg und stieg, als gäbe es kein Ende. Es war das erste Mal, dass sich M. etwas gönnte: eine neue Wohnung, ein Auto. Die Bank war bei den Konditionen für den Kredit sehr zuvorkommend, als sie sein Wertpapierkonto überprüfte. Aber er hatte zumindest gelernt, dass man in diesem Spiel nicht alles auf eine Karte setzen soll. Daher nahm er das Angebot der Bank an, die ihm auch den Kredit vermittelt hatte, in einen bestimmten Fonds zu investieren. Der konnte auf eine solide Performance verweisen und war selbst in turbulenten Zeiten gewachsen. Der Fonds-Manager wurde in Fachkreisen wie ein Guru verehrt. So kann ich mein Vermögen in jedem Fall vermehren, dachte sich M.

Nur irgendwann wurde er unaufmerksam. Oder war seine Wahrnehmung ob seines vermeintlichen Vermögens getrübt. Als ob nicht sein könnte, was plötzlich weltweit passierte. Er, der immer unabhängig agiert hatte, stand in der Finanzkrise plötzlich alleine, ohne Hilfe und Ratgeber da. Viel zu spät versuchte er, seine abstürzenden Papiere abzustoßen. Und fand keine Käufer.

Als er aus diesem Albtraum erwachte, hatte sich der Wert seines Portfolios marginalisiert. Aber nicht nur des seinen. Die folgenden Hauptversammlungen glichen eher einem Konvent trauriger Lemminge denn gierigen und selbstbewussten Finanzhaien.

Und als sich dann der Fonds des New Yorker Fonds-Gurus in Luft auflöste, die beschworene Mündelsicherheit nicht in Beton gegossen war, begann sich die Gier in Ärger zu verwandeln.

Die Wohnung hat M. zurückgegeben, er arbeitet noch immer hinter dem Tresen. Aber nun hört er seinen Gästen nicht mehr zu, sondern er erzählt seine Geschichten und macht seinem Ärger Luft. Mittlerweile ist Heinz M. ein wandelndes Lexikon. Ein Lexikon jener Habgier, die internationale Finanzspekulanten antreibt. So lange, bis alles kollabiert. Wenn Boni-Zahlungen an defraudante Manager in die Öffentlichkeit gelangen, sich die personifizierte Unschuldsvermutung von einem Verhör zum anderen schwindelt, ohne verhaftet zu werden, oder ein miserabel Englisch sprechender Europa-Abgeordneter gierig nach wohldotierten Lobbying-Aufträgen schielt, kann er sich in Rage reden. Wobei er die zahlreichen normalsterblichen Klein-Investor-Kollegen aus allen Gesellschaftsschichten nicht aus der Kritik herausnimmt. Er kritisiert vehement deren Schielen nach mehr und noch mehr Ertrag durch Anlagemodelle, die nur die persönliche Gier befriedigen können und rationales Nachrechnen lahmlegen.

Nicht jeder seiner Stammgäste will seine Suada hören, auch wenn er mittlerweile ironisch zur Geschichte seiner Gier steht, aber die Cocktails von Heinz M. sind immer am besten, wenn seine Wut aus ihm herausbricht.

Wissen

Gier bezeichnet ein "heftiges, maßloses Verlangen, Begehren". Heute wird das Wort meist in der Bedeutung von Habgier oder Habsucht verwendet, also dem übersteigerten Streben nach materiellem Besitz, unabhängig von dessen Nutzen. Eng verwandt ist der Begriff mit dem Geiz, der übertriebenen Sparsamkeit.