Der gebürtige Syrer Manuel Baghdi, Obmann des Vereins "Bewegung Mitmensch", kritisiert die europäische Asylpolitik.
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Wien. Manuel Baghdi schläft derzeit wenig. Das liegt nicht nur daran, dass er als Flüchtlingsbeauftragter des Wiener Erzbischofs Christoph Schönborn und als Obmann des Vereins "Bewegung Mitmensch - Maria Loley" im Dauereinsatz ist, sondern auch an seiner Herkunft: Baghdi wurde 1961 in Nordsyrien geboren und hat schlaflose Nächte, wenn er daran denkt, was sich in seiner alten Heimat, die er 1989 verlassen hat, heute abspielt. Und wie die politische Führung in Europa taten- und machtlos dabei zusieht.
"Wiener Zeitung": Was unterscheidet die jetzige Flüchtlingskrise von früheren?Manuel Maghdi: Wir haben es jetzt mit einem neuen Ausmaß zu tun. Der Unterschied zu früheren Flüchtlingswellen besteht darin, dass die Bereitschaft der Politiker, eine Lösung zu finden, heute geringer ist als damals. Und es werden bewusst Ängste geschürt, dass die Flüchtlinge unser Sozialsystem ausnutzen und den Österreichern die Jobs wegnehmen.
Aber diese Propaganda gab es früher auch schon seitens der FPÖ.
Das stimmt schon. Aber damals war die Bereitschaft trotzdem größer, und es gab mehr Möglichkeiten, die Flüchtlinge zu verteilen. Die sind zum Teil auch einfach untergetaucht.
Ist die Politik wirklich so unwillig oder unfähig - oder ist nicht einfach die Herausforderung zu groß?
Meiner Meinung nach fehlt bei der politischen Führung wirklich der Wille. Ich habe seit Jahrzehnten sehr viel Kontakt mit verschiedensten Beamten, die sehr engagiert sind. Das sind Menschen wie Sie und ich, die sich bemühen und halt manchmal auch überfordert sind. Aber an denen liegt es nicht, sondern an den Spitzenpolitikern.
Es wird aber auch oft kritisiert, dass die Kirche mehr tun könnte.
Die Kirche tut sogar sehr viel. Bei mir melden sich laufend auch Pfarren, die Flüchtlinge aufnehmen möchten.
Wie kann man die Krise lösen?
Das muss international angegangen werden. Wenn der Wille da ist, kann man den Krieg in Syrien stoppen. Und Europa braucht eine humane EU-weite Flüchtlingspolitik, es darf nicht alles an ein paar Ländern hängenbleiben. Vor allem muss man den Flüchtlingen vor Ort helfen, also direkt in den Lagern im Libanon oder in Jordanien. Wir beschäftigen uns nur mit der Schale und nicht mit dem Kern des Problems. Mit mehr Engagement vor Ort könnte man auch die kriminellen Schlepper stoppen.
Das klingt, als wären Sie für Auffanglager, wie sie vor einiger Zeit vorgeschlagen wurden.
Ja, sofern sie vom UNHCR oder von NGOs geleitet werden. Dort könnte man gleich feststellen, wer am meisten Hilfe braucht beziehungsweise in größter Gefahr ist, und diese Menschen dann durch humanitäre Korridore nach Europa bringen. Damit könnte man sich das ersparen, was jetzt in Traiskirchen passiert. Wobei für jene, die es bis nach Österreich schaffen, Traiskirchen fast schon ein Paradies ist. Ich war schockiert von den Geschichten, die mir die Menschen im Libanon, in Jordanien und in der Türkei erzählt haben. Es ist auch nicht so leicht, ihnen zu helfen. Ich habe zum Beispiel in meiner Naivität einen Medikamententransport in den Libanon organisiert, weil die medizinische Versorgung katastrophal ist - der wurde wegen irgendwelcher Bestimmungen abgewiesen. Aber man kann trotzdem helfen. Wir unterstützen zum Beispiel in eigenen Projekten Waisenkinder und Witwen, die besonderen Schutz brauchen. Aber alle brauchen Hilfe. Man kann es nicht einfach auf morgen verschieben, wenn ein Mensch in Not heute an unsere Tür klopft.
Können Sie die Trennung zwischen "echten" Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen verstehen?
Ja. Wenn jemand in einer solchen Krise die humanitäre Hilfe ausnutzt, finde ich das unerträglich. Wir können natürlich nicht alle ungeschaut aufnehmen. Wir sind ein Rechtsstaat und müssen das Sozialsystem vor Missbrauch schützen, gerade in Krisenzeiten, in denen wir jede Kraft benötigen. Andererseits verstehe ich jeden, der nach Europa flüchten will. Die humanitäre Lage im Libanon, in Jordanien und auch in der Türkei ist unerträglich.
Wie geht es Ihnen als gebürtigem Syrer angesichts dieser Krise?
Wenn ich darüber nachdenke, habe ich schlaflose Nächte. Ich hatte selbst Bekannte aus meiner Geburtsstadt, die im Mittelmeer gestorben sind. Einen Überlebenden habe ich gefragt: "Wie kannst du mitten in der Nacht in einem Schlauchboot übers Meer fahren?" Er hat gesagt: "Und noch dazu kann ich nicht schwimmen. Aber sterben würde ich sowieso. Ob vor Hunger oder im Mittelmeer. Im Schlauchboot hatte ich wenigstens die kleine Hoffnung, gerettet zu werden." Da musste ich darüber nachdenken, wie ich selbst in dieser Situation handeln würde. Die Menschen in den Lagern im Libanon haben uns angefleht: "Holt uns ab! Nehmt uns mit!" Diese Verzweiflung verfolgt mich noch immer. Und es tut mir weh, wenn ich sehe, was in meinem Heimatland passiert. Es ist eine Schande.
Sie sind 1989 selbst aus Syrien geflüchtet. Wie wurden Sie damals in Österreich aufgenommen?
Ich habe mich willkommen gefühlt. In der Bevölkerung ist auch heute die Hilfsbereitschaft groß. Ich bekomme ständig Anrufe von Leuten, die helfen wollen. Ich bin jetzt 25 Jahre in der Flüchtlingshilfe - großes Lob und Dank an die österreichische Bevölkerung. Bitte macht so weiter!