Zuwanderer zogen schon vor der offiziellen Öffnung im Jahr 2006 in die Gemeindebauten. | Aber keine öffentliche Kommunikation. | Wien. FPÖ wie SPÖ haben in den Wiener Gemeindebauten überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Laut Wahltagsbefragung von Sora haben 57 Prozent der Gemeindebau-Bewohner die SPÖ gewählt, 29 Prozent die FPÖ. Gepunktet haben dürfte die SPÖ besonders bei den Zuwanderern, die mittlerweile ebenfalls im Gemeindebau stark vertreten sind.
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Die öffentliche Wahrnehmung fokussiert auf die Konflikte - und auf die Ethnisierung der Konflikte - im Gemeindebau, bedauert der Wiener Soziologe Christoph Reinprecht. Dabei finde nun ein Prozess statt, der durch die Politik nur verzögert worden sei: "Die Normalität kehrt in den Gemeindebau ein."
220.000 Gemeindebauwohnungen gibt es wienweit, in denen rund eine halbe Million Menschen lebt. Zahlen, wie viele Personen mit Migrationshintergrund in einem Gemeindebau wohnen, gibt es offiziell nicht. Reinprecht geht davon aus, dass heute zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bewohner selbst im Ausland geboren wurde oder einer Zuwandererfamilie entstammt. Damit spiegle der Gemeindebau auch den Wandel der Stadt in den vergangenen Jahrzehnten wider.
2006 wurde der Zugang zu Gemeindewohnungen auf Druck der EU auch für nicht-österreichische Staatsbürger geöffnet. Das bedeutet aber nicht, dass Zuwanderer nicht schon zuvor in Gemeindebauten einziehen konnten. So habe eine Untersuchung 2001 gezeigt, dass damals bereits 25 Prozent der Bewohner in den eigenen vier Wänden eine andere Sprache als Deutsch sprachen. Demgegenüber gab es 1971 tatsächlich so gut wie keine Migranten in den Bauten der Stadt Wien.
Woher aber kommt diese Diskrepanz? "Die Strategie der Gemeinde Wien war lange Zeit zu sagen, wir öffnen die Gemeindebauten nicht, um soziale Konflikte wie in Frankreich oder England zu vermeiden", sagt Reinprecht. Gleichzeitig habe die Politik aber gewisse Türen geöffnet: einerseits über Notfallswohnungen, andererseits über die großzügige Einbürgerungswelle in den neunziger Jahren. "Es wurde also eine doppelzüngige Strategie gefahren", meint der Soziologe. Eine der Auswirkungen: Das Problem wurde in den Gemeindebau hineindelegiert - "und die Leute haben sich allein gelassen gefühlt, im Stich gelassen". Denn offiziell habe die Politik ja stets betont: Der Gemeindebau bleibe für Zuwanderer geschlossen.
Konflikte dieser Art seien normale Begleiterscheinungen sozialen Wandels, betont Reinprecht. Und einen solchen habe Wien in den vergangenen 20, 30 Jahren massiv durchlaufen. Bis in die siebziger Jahre sei prognostiziert worden: Die Bevölkerung altere und schrumpfe. Und dann sei Dynamik hereingekommen - durch die massive Zuwanderung.
Günstige Unterkunft fanden die Neuankömmlinge auf dem Mietmarkt in schlecht ausgestatteten Gründerzeitbauten. Rein-precht beurteilt es als "sehr positiv", dass mit der Öffnung der Gemeindebauten Teile der migrantischen Bevölkerung in besser ausgestattete Wohnungen übersiedeln konnten. Für sie bedeutet das einen Aufstieg. Damit zeige sich auch, dass der Gemeindebau inzwischen eine neue Funktion übernommen hat: einkommensschwachen Gruppen günstige und gut ausgestattete Wohnmöglichkeit zu bieten. In diese Gruppe fallen eben auch Zuwanderer.
Das bedeute auch einen Wandel in der Zielsetzung des öffentlichen Wohnbaus in Wien. Denn zu Beginn stand nicht der politische Wille, den Ärmsten der Armen unter die Arme zu greifen. Es ging vielmehr um die qualifizierte Arbeiterschaft, die kleinen Beamten und Angestellten, die hier gefördert werden sollten. "Es war ein Projekt zur Emanzipation der Arbeiterklasse." Nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich die Zielsetzung dann etwas verschoben. "Nun ging es darum, Arbeiterfamilien zum sozialen Aufstieg zu verhelfen." Und jetzt habe der Gemeindebau eben eine neue Aufgabe zu bewältigen: die Versorgung für ärmere Schichten. "Diese Veränderung ist sehr neu, das ist ein Prozess, der gerade stattfindet."
Und der geht natürlich nicht ohne Konflikte ab. Konflikte übrigens, die einer Umfrage zufolge, die Reinprecht 2006 in Wiener Gemeindebauten durchgeführt hat, von angestammten und zugewanderten Bewohnern ähnlich gesehen werden. Lärm, das Verhalten der Jugend, Schmutz sind die üblichen Konfliktthemen. Nur die Lösungswünsche fallen anders aus: Während sich die schon lange ansässigen Bewohner für formale Richtlinien, Regeln und Kontrolle aussprechen, plädieren Zuwanderer für vermitteltes gegenseitiges Kennenlernen.
Die Stadt habe inzwischen die Probleme aktiv in die Hand genommen: durch Gebietsbetreuungen, Mediation, Hausordnungen. "Es wird sehr viel getan vor Ort. Gleichzeitig ist die Politik nach wie vor unglaublich zurückhaltend im öffentlichen Benennen des Notwendigen." Dabei hätte man schon aus Fehlern der Vergangenheit lernen können, meint Reinprecht. "Der große Fehler war, Lösungen zu versuchen, ohne sie der Öffentlichkeit zu kommunizieren, kurz: eine österreichische Lösung. Das hat mit der österreichischen Verfasstheit zu tun." Diese Ambivalenz sei nach wie vor da. Immer noch sei die Politik "mutlos, zurückhaltend in der Kommunikation".
Angst vor Ghettoisierung
Hier hallen noch die Eindrücke aus dem Anti-Ausländervolksbegehren der Freiheitlichen in den neunziger Jahren nach. Rein precht: Die Stadtführung sei lange Zeit geradezu fixiert gewesen von der Angst, es könnte - wie in Frankreich - zu Ghettoisierungen kommen. Doch dies könne schon auf Grund der Struktur der Gemeindebauten nicht passieren: In Wien seien diese auf alle Bezirke verstreut, es gebe alles von Lückenbebauungen bis zu großen Siedlungen. Es gebe heute gendergerechtes Wohnen, Radfahrsiedlungen. Und durch die höchst unterschiedlichen Bauzeiten - und damit Besiedelung - über alle Jahrzehnte unterscheidet sich die Bewohnerschaft von Bau zu Bau auch bezüglich Alters-, Sozial- und Bildungsstruktur.