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Der britische Tierarzt und Jurist Charles Foster über sein radikales Experiment, als Wildtier zu leben, über unsere sinnferne Kultur - und die Sehnsucht nach unseren Ursprüngen.
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"Wiener Zeitung": Herr Foster, wie kamen Sie auf die Idee, in die Rolle von Wildtieren zu schlüpfen?<p>Charles Foster: Als Kind gab es eine Amsel in unserem Vorort-Garten in Yorkshire. Sie sah mich an - und ich sah sie an, und ich hatte das Gefühl, sie wüsste etwas über den Garten, das ich nicht wusste. Seit damals beschäftigt mich die Frage, ob ich fähig bin, meine Umgebung auch ganz anders wahrzunehmen als ich es tue. Sehe ich dasselbe wie ein Freund, wenn wir beide aus dem gleichen Fenster blicken? Sprechen wir über dieselben Dinge, oder ist jedes Gespräch ein Gespräch mit mir selbst? Ich dachte, wenn ich mich auch nur ansatzweise in die Erfahrungswelt eines nichtmenschlichen Wesens versetzen kann, besteht Hoffnung, dass Perspektivwechsel und echte Kommunikation, die über mentale Masturbation hinausgeht, auch mit meinen Artgenossen, den Menschen, möglich ist.
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<p>Dennoch wirkt die Idee, als Dachs im Wald oder als Fuchs in Vorortsiedlungen zu stöbern, sehr skurril.<p>Auf mich überhaupt nicht. In jeder Kultur außer unserer eigenen, erst "kürzlich" pervertierten, versuchen die Menschen, sich nicht nur visuell, sondern mit allen Sinnen zu orientieren. Verrückt finde ich, wie wir uns selbst beschränken und uns in Büros oder Einkaufszentren Tätigkeiten widmen, die schlecht für uns sind und uns unglücklich machen.<p>Sie haben über viele Jahre hinweg wochenlang, im Sommer wie im Winter, versucht, als Dachs, Otter, Fuchs, Rothirsch und Mauersegler zu leben. Ihr Buch "Der Geschmack von Laub und Erde" ist eine Collage dieser Erfahrungen. Warum haben Sie sich diese fünf Tierarten ausgesucht?<p>Es sollten Tiere aus meiner Umgebung sein, deren Rezeptoren erforscht sind. Tiere, die ich mag, aus den Wäldern, Mooren, Flussauen, die ich liebe und die ich durch die Tierperspektive besser kennenlernen wollte. Ihre Beobachtung sollte vor allem Spaß machen, sonst hätte ich vielleicht nicht durchgehalten. Als Kind liebte ich Otter. Ich hatte einen Otter als Stofftier, aber das Leben mit ihnen hat mich ernüchtert. Ein Otter zu sein ist wie auf Speed zu sein. Otter sind nur sechs Stunden am Tag wach, verschlingen riesige Futtermengen, legen weite Strecken zurück und bekämpfen Artgenossen auf die blutigste Weise. Meine Begeisterung für Dachse hat hingegen zugenommen. Ihr leidenschaftliches Interesse an der Welt macht sie zu wahren Philosophen.<p>Wie haben Sie sich auf Ihre Einsätze im Tierreich vorbereitet?<p>Ich las alles über die Rezeptoren, mit denen diese Tiere ihre Welt erkunden, und wie sie die Informationen verarbeiten. Und ich versuchte, meine Sinne zu sensibilisieren, zum Beispiel indem ich zu Hause in jedem Zimmer ein Räucherstäbchen mit einem anderen Duft entzündete und mich blind durchs Haus bewegte. Letztlich wäre gar nicht so viel Vorbereitung nötig gewesen. Evolutionsgeschichtlich sind wir so nah an den Tieren dran, wir teilen so viel neurologische Hardware und Software mit ihnen, dass unser üblicher persönlicher und politischer Mangel an Empathie ihnen gegenüber psychopathisch ist. Ich musste nur dahin gehen, wo die Tiere leben, meine Antennen ausfahren und auf Empfang bleiben. Vor allem Letzteres fiel mir schwer. Anfangs drifteten die Gedanken immer wieder ab, später ging es besser.<p>Welche Gedanken suchten Sie denn in der Wildnis wiederkehrend heim?<p>Fragen wie: Wer ist Charles Foster? Was für ein Tier ist er? Was für eine Beziehung hat er zu der nichtmenschlichen Welt? Was kann er vom im Buch beschriebenen zoologischen Method-Acting für die Entwicklung als Mensch lernen? Was gibt’s zum Abendessen? Kann ich jetzt bitte nach Hause? Vermissen die Kinder mich genauso wie ich sie? Die meiste Zeit fühlte ich mich wie ein Versager. Andererseits war das Scheitern meiner Transformation zum Tier wie eine Selbstvergewisserung: Es gibt da etwas in mir, das für mich charakteristisch ist und das es wert ist, weiter zu funktionieren.<p>Wie weit gingen Sie bei Ihrer Verwandlung zum Tier?<p>Ich versuchte mich soweit wie möglich anzupassen. Mauersegler sind fast nur in der Luft, sie schlafen sogar segelnd - das konnte ich nicht. Aber ich konnte wie ein Dachs in einem Erdloch im Wald schlafen. Londoner Füchse durchstöbern den Müll auf der Suche nach Pizzaresten. Das tat ich auch. Aber wenn ich mich wie ein Mauersegler nur von Insekten ernährt hätte, wäre ich krank geworden. Als Dachs war ich nachts krabbelnd und schnuppernd unterwegs, aß Regenwürmer, aber auch mal Wurst und anderes, das ich mitgebracht hatte. Ich kotete wie ein Dachs auf Haufen und setzte eine dicke Patina aus Gerüchen an, die ein Bekannter, der mir ab und zu Lebensmittel brachte, eklig fand. Als Otter schnappte ich mit den Zähnen nach Fischen, trug aber meist meine gewohnte Kleidung, weil ich mich darin wohl fühlte und Tiere sich in ihrem Fell oder Gefieder wohl fühlen.<p>Was gefiel Ihnen an Ihrem Leben als Tier am besten? Und was am wenigsten?<p>Britische Dachse ernähren sich zu 85 Prozent von Regenwürmern. Das Gefühl auf der Zunge ekelte mich sehr, aber ich würde heute nicht mehr darüber schreiben, weil es nichts darüber aussagt, wie Dachse die Welt erleben. Die besten Erfahrungen des ganzen Abenteuers waren die, die ich mit meinen Kindern teilte. Sie waren viel bessere Dachse als ich, konnten den Geruch von Bäumen besser unterscheiden, Losungen besser leben und sind auch weiterhin meine besten Tutoren: Ihre Verbindung zur Natur ist so viel intakter als meine.<p>Hatten Sie zeitweise tatsächlich das Gefühl, die Umgebung wie ein Tier wahrzunehmen?<p>Gelegentlich gab es ekstatische Momente, in denen ich dachte, ich hätte etwas davon erblickt, was auf der anderen Seite ist. Mit einem Fuchs gab es so einen intensiven Blickwechsel. Ich bewundere Füchse sehr, von den fünf gewählten Tierarten fühlte ich mich ihnen am nächsten. Sie können exzellent sehen, riechen, fühlen und hören. Wir sind auch ganz gute Sinnes-Allrounder, wenn wir uns nicht nur auf unsere Augen verlassen. Füchse könnten unser Vorbild sein, bei dem Versuch, unseren Lebensraum intensiver zu erfahren.<p>Wie können solche Versuche im Alltag aussehen?<p>Wenn ich im Wald spazierengehe, sehe ich Bäume. Ich berühre oder rieche sie fast nie. Da der Sehsinn und der Verstand physiologisch so eng verbunden sind, wird das Bild eines Baums unmittelbar zu Charles Fosters Vorstellung von einem Baum. Das ist epistemologisch gefährlich, weil wir 80 Prozent der Informationen, die wir mit allen Sinnen erfahren könnten, beim Formen unseres Weltbilds außer Acht lassen. Außerdem ist so eine Welterfahrung sehr, sehr langweilig. Als ich versuchte, mich im Wald mit geschlossenen Augen auf den Geruch der Bäume zu konzentrieren, gab es Millisekunden, in denen ich den Geruch für sich wahrnehmen und schätzen konnte, weil ich nicht zuließ, dass er sofort ein Bild von einem Baum vor meinem inneren Auge und die dazugehörigen Gedanken entstehen ließ. Das war sehr aufregend.<p>Sie sagen, kontinuierliche Selbstreferentialität durch ein rein visuelles Weltbild führe zu Arroganz - nicht nur Pflanzen und Tieren, auch Menschen gegenüber.<p>Wir können viel besser auf unsere Artgenossen eingehen, wenn wir alle Sinne nutzen. Das ist harte Arbeit, wobei viele Dinge helfen können: Liebe machen, Rotwein trinken, Bücher, Spaziergänge nach dem Essen und so weiter. Allerdings bleibt der Andere - ob es sich um die Andersartigkeit eines Liebhabers oder die unvergleichlich stärkere Andersartigkeit eines Hundes handelt - immer bis zu einem gewissen Grad rätselhaft und unzugänglich.<p>Woher kommt das menschliche Bedürfnis, Tieren und Pflanzen so sehr nahe zu sein, dass wir sie in unsere Häuser holen?<p>Wir sind Teil der Natur und unsere Beziehung zur Natur steht im Zentrum dessen, was uns ausmacht. Wenn wir das ignorieren, werden wir krank. Unsere Spe-zies entwickelte sich in den Ebenen Ostafrikas. Mit dem aufrechten Gang hoben wir die meisten unserer Sinnesorgane weit vom Boden ab. Mit der Weitsicht, die wir dadurch erlangten, taten sich uns neue Verbindungen auf. Die enge Verknüpfung von Verstand und Sehsinn sorgte für die Entwicklung des abstrakten Denkens. Von nun an konnten wir uns mehr auf unsere innere Welt konzentrieren als auf das, was sich auf dem Boden abspielt. Seitdem definieren wir uns vor allem über unseren Verstand. Aber die Sehnsucht nach unseren Ursprüngen ist geblieben.<p>In ihrem Buch grenzen Sie sich von Autoren ab, die "kolonialistisch" über das Leben der Tiere schreiben, ohne deren Perspek-
tive einzunehmen. Andererseits distanzieren Sie sich von einer quasi-schamanistischen Haltung, wie sie John Alec Baker mit seinem 1967 erschienenen Buch "Der Wanderfalke" vertritt, in dem er fast selbst zum Wanderfalken wird und, wie Sie schreiben, "das Leben des Tieres über das menschliche Leben stellt".<p>Mir ging es bei meinen Expeditionen nicht darum, die Grenzen zwischen Mensch und Tier aufzulösen. Ich stimme dem US-amerikanischen Philosophen Thomas Nagel zu, der 1974 in seinem Aufsatz "Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?" erklärte, der Mensch könne nie wissen, wie es sich für eine Fledermaus anfühlt, eine Fledermaus zu sein, auch wenn er alles über ihren Wahrnehmungsapparat weiß. Auch wenn es sich in der akademischen Philosophie nicht gehört, das zuzugeben: Es gibt Dinge in der Natur, ebenso wie in jedem Gespräch oder beim Streicheln einer Katze, die wir weder mit Worten ausdrücken noch verstehen, vielleicht aber erspüren können.
Charles Foster, geboren 1962, ist ausgebildeter Tierarzt und Anwalt. Er lehrt Ethik und Rechtsmedizin in Oxford. Der Brite ist Fellow der Royal Geographical Society und schreibt Bücher zu Reise- und Wissenschaftsthemen, etwa über seine Expedition zum Nordpol und seine Teilnahme am Marathon des Sables in Marokko. Charles Foster ist verheiratet und hat sechs Kinder. Sein Buch zum Experiment: "Der Geschmack von Laub und Erde", übersetzt von Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß. Malik, München 2017, 288 Seiten, 20,60 Euro.
Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt als Kultur- und Reisejournalistin in Hamburg.