Nur geringe Zahl von Frauen, die sich "effektiv" vermehrten. | Verschwinden vor etwa 30.000 Jahren hatte mutmaßlich mehrere Ursachen. | Berlin. Den Begriff "Überbevölkerung" kannten die Neandertaler nicht. Adrian Briggs und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig schließen das aus dem Erbgut der vor vielen Jahrtausenden ausgestorbenen nahen Verwandten der heutigen Menschen (Science, Band 325, Seite 318).
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Zwischen der "mitochondrialen DNA" verschiedener Neandertaler-Knochen, die zwischen Spanien und Russland gefunden wurden, gibt es viel weniger Unterschiede als im gleichen Erbgut des modernen Menschen "Homo sapiens". "Demnach lebten damals zur gleichen Zeit nur um die 1500 weibliche Neandertaler in Europa, die sich effektiv vermehrten", erläutert Adrian Briggs den Erbgut-Vergleich.
Mit "effektiv vermehren" meint der Forscher, dass diese Neandertaler-Frauen Oma wurden, weil ihre Töchter selbst Kinder bekamen. Da mitochondriale DNA immer nur von der Mutter vererbt wird, finden die Forscher nur die weibliche Linie in diesem Erbgut, das die Informationen für den Aufbau mikroskopisch kleiner Kraftwerke in den Zellen eines Organismus liefert.
Für ihre Studie untersuchten die Max-Planck-Forscher gemeinsam mit Kollegen aus verschiedenen europäischen Ländern die Fossilien von fünf Neandertalern "Homo neanderthalensis" aus dem Norden Spaniens, dem Neandertal in der Nähe von Düsseldorf, Kroatien und dem Süden Russlands. Mit einer neu entwickelten Methode, die sie "Primer Extension Caption" oder kurz PEC nennen, vermehren sie die wenigen Erbgut-Bruchstücke stark, die nach dem Tod dieser Neandertaler vor 38.000 bis 70.000 Jahren noch übrig geblieben sind. Nur einen kleinen Teil der Abschriften der alten DNA verwenden sie für ihren Vergleich des Erbgutes. Der Rest wird für spätere Kontrollen und weitere Untersuchungen aufbewahrt. Diese reichliche "Sicherheitsreserve" ist der große Vorteil der PEC-Methode.
DNA wenig differenziert
In der mitochondrialen DNA der fünf Neandertaler-Fossilien fanden die Forscher nur ein Drittel der Unterschiede, die heute in der gleichen DNA von modernen Menschen auftauchen. So geringe Unterschiede deuten auf eine sehr geringe Zahl Neandertaler-Frauen hin, die sich effektiv vermehrten. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent gab es zu Lebzeiten dieser Individuen in ganz Europa nur zwischen 268 und 3510 weibliche Neandertaler, die Töchter hatten, die selbst wieder Kinder bekamen, rechnen die Forscher aus.
Diese geringe Neandertaler-Oma-Dichte kann verschiedene Gründe haben. Zum Beispiel könnte die Kindersterblichkeit sehr hoch gewesen sein. "Tatsächlich stammte eine unserer Proben von einem im Alter von einer oder zwei Wochen verstorbenen Baby, eine zweite von einem ein- oder zweijährigen Neandertaler-Kind", berichtet Adrian Biggs. Genaueres aber wissen die Forscher nicht. Daher können sie auch nicht sagen, wie viele Neandertaler damals insgesamt gelebt haben. Mehr als 100.000 aber dürften es kaum gewesen sein. Heute leben dagegen rund 700 Millionen moderne Menschen in Europa.
Die Forscher wissen auch nicht, ob es in der 400.000 Jahre dauernden Neandertaler-Geschichte immer so wenige Individuen gab, oder ob die Bevölkerung erst vor dem Aussterben kräftig abnahm. Allerdings findet Briggs in der mitochondrialen DNA relativ viele Veränderungen in den Erbgutabschnitten, nach deren Vorlage die Zellen später Proteine herstellen. Solche Änderungen können leicht gefährlich werden und zum Beispiel Erbkrankheiten auslösen. Deshalb verschwinden sie aus großen Populationen rasch wieder. "In kleinen Populationen aber können sich Veränderungen lange halten, die keine oder nur geringe Nachteile bringen", erklärt Adrian Briggs. Möglicherweise gab es daher sehr lange nur sehr wenige Neandertaler.
"Große Säugetiere können auch in kleinen Populationen lange überleben", berichtet Adrian Briggs weiter. Allein ist die niedrige Neandertaler-Oma-Dichte daher kaum für das Aussterben des Homo neanderthalensis verantwortlich. Weitere Faktoren wie der moderne Mensch als Konkurrent im selben Lebensraum oder besonders harsche Bedingungen auf einem Höhepunkt der Eiszeit dürften also noch dazu gekommen sein. Vor ungefähr 30.000 Jahren verschwanden jedenfalls die Neandertaler von der Erde.