Witwe des ermordeten Fechttrainers Israels erinnert sich an das Massaker.
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Ramat HaSharon. Außer einem Stofftier des olympischen Maskottchens Waldi war nichts mehr übriggeblieben, was Ankie Spitzer ihrer neugeborenen Tochter von ihrem Vater hätte mitbringen können. "Der Boden war blutverschmiert. An der Wand waren Schusslöcher. Es lag sogar noch das Essen herum, das für die Geiseln bestellt wurde", sagt die heute 65-Jährige in ihrem Haus in Ramat HaSharon in Israel. Zusammen mit anderen Angehörigen sollte sie damals die Habseligkeiten ihres Ehemannes Andrei Spitzer abholen. Er war Fechttrainer des israelischen Olympia-Teams und einer von elf israelischen Teammitgliedern, die vor 40 Jahren bei den Olympischen Spielen in München dem Massaker palästinensischer Attentäter zum Opfer fielen.
Vier Jahre davor, 1968, hatte Ankie Spitzer ihren Mann durch eine gemeinsame Leidenschaft kennengelernt: das Fechten. Sie war Schülerin der Fechtakademie in Den Haag. Andrei war ihr Lehrer. Nach einiger Zeit in Holland ist sie mit ihm nach Israel umgezogen, wo die beiden bis zum Sommer 1972 im Trainingslager des israelischen Olympia-Teams gelebt haben. In diesem Sommer kam auch ihre Tochter Anouk zur Welt. Zwei Wochen später begann Olympia in München. Und damit auch das Massaker.
Andrei und Ankie Spitzer haben sich ein Zimmer in einer Münchner Pension gemietet, mussten aber bald überraschend nach Holland, weil ihre Tochter krank wurde. Andrei musste nach zwei Tagen wieder zurück in die Olympiastadt. Ankie blieb im Haus ihre Eltern in Holland. Das Geiseldrama samt der missglückten Rettungsaktion hat sie von dort live übers Fernsehen mitverfolgt.
"Die Attentäter sind um halb fünf ins Olympiadorf eingedrungen. Ich habe zur selben Zeit geschlafen", sagt sie. Plötzlich haben sie die Eltern aufgeweckt. Zwei israelische Sportler waren zu der Zeit bereits tot. "Meine Eltern haben mir Fragen gestellt. Wer eigentlich der Box-Coach ist und wie viele Mitglieder die israelische Delegation hat", erinnert sie sich. Dann haben sie ihr von einem angeblichen Terroranschlag auf die israelischen Sportler erzählt. Ankie Spitzer wollte sofort zurück nach München, blieb dann aus Sicherheitsgründen aber doch in Holland.
Banges Warten am Telefon
Den Rest des Tages verbrachte sie vorm Fernseher und am Telefon. Die palästinensischen Geiselnehmer der Gruppe Black September hatten zwei Athleten sofort erschossen. Im Austausch für die neun übrigen Geiseln forderten sie die Freilassung von 234 palästinensischen Häftlingen. "Dann hat mich die israelische Premierministerin Golda Meir angerufen. Sie meinte, dass Israel nicht mit Terroristen verhandelt", sagt Spitzer. Fortan konnte sie nur noch hoffen, dass ihr Mann überleben wird. Die Geiselnehmer stellten ein Ultimatum nach dem anderen. Zuerst hieß es, dass ab zwölf Uhr mittags jede Stunde eine Geisel erschossen werde. Dann haben sie es auf drei Uhr nachmittags verschoben.
Doch plötzlich erscheint ihr Mann im Fernsehen. Weil er Deutsch konnte, sollte er vor den Kameras sprechen. "Er war nur in Unterhosen und hatte keine Brillen auf", sagt sie. "Das war sehr erniedrigend. Ohne Brillen konnte er ja nichts sehen." Ein Terrorist stand neben ihm am Fenster und habe ihn gefragt, ob es allen Geiseln gut gehe. Andrei sagte ja, bis auf einen. "Dann haben sie ihn mit dem Gewehr geschlagen und zurück ins Zimmer gestoßen", erinnert sie sich. Die nächsten Stunden erlebte die Weltöffentlichkeit die fehlgeschlagene Rettungsaktion durch die deutsche Polizei und den israelischen Geheimdienst. Zuerst sollten verkleidete Agenten die Wohnung im Olympiadorf stürmen. Doch dann wurde klar, dass die bewaffneten Palästinenser die Vorbereitungen der Rettungsaktion live im Fernsehen mitverfolgt haben.
Später wurden die Athleten und Geiselnehmer in einem Hubschrauber zum Flughafen gebracht, wo sie in ein Flugzeug steigen sollten, in dem 17 als Flugpersonal verkleidete Polizisten auf sie gewartet hätten. Doch der Plan wurde in letzter Minute geändert, die Polizei attackierte die Geiselnehmer, und die Panzerwagen sind im Verkehr stecken geblieben. Nach mehr als einer Stunde Schusswechsel wurden die neun Geiseln von den Attentätern in einen Hubschrauber gesteckt und getötet.
"Nicht schweigen"
Als Ankie Spitzer Stunden nach dem Massaker zurück in die blutverschmierte Wohnung im Olympiadorf musste, um nach Habseligkeiten ihres Mannes zu suchen, hat sie sich eine Sache geschworen. "Ich werde nie zu diesem Verbrechen schweigen."
Seit 40 Jahren fordert Ankie Spitzer nun schon eine offizielle Anerkennung des Massakers durch das Internationale Olympische Komitee. Auch dieses Jahr hat sie wieder IOK-Präsident Jacques Rogge getroffen, um eine Schweigeminute für die Opfer als Teil der Eröffnungsfeier in London einzufordern. Doch seit 1972 wird das nicht erlaubt. Die Angst vor einem Boykott arabischer Länder sei der Grund.
Stattdessen gibt es nun einen Gedenkgottesdienst am Montag in der Londoner Guild Hall. Doch die Schweigeminute während der offiziellen Eröffnungsfeier wäre für Spitzer ein wichtiges Signal gewesen. Dabei gehe es ihr gar nicht einmal um Israel, wie sie sagt. "Aber die elf ermordeten Israelis waren Olympia-Athleten, die als Olympia-Athleten ermordet wurden. Es geht um die Ideale der Spiele", sagt sie.
Ein Ideal sei das friedliche Zusammenkommen von Menschen, die in einer anderen Situation Feinde wären. Auch ihr Mann Andrei sei 1972 auf die libanesischen Sportler zugegangen, obwohl die beiden Länder im Krieg waren. Sie haben die Hände geschüttelt und sich länger unterhalten. "Er ist grinsend und zufrieden zurückgekommen", erinnert sie sich. Dieses Ideal vermisst sie heute. "Heute geht es um Geld. Die Seele der Olympischen Spiele ist nicht mehr dieselbe. Das Olympiadorf sieht heute aus wie eine Militärbasis. Wie soll man da zusammenkommen?", sagt sie.
Ankie Spitzer lebt heute in Israel, wo sie als Korrespondentin für das holländische und deutsche Fernsehen arbeitet. Zusammen mit Freunden und Familie hat sie sich die Eröffnungsfeier in London im Fernsehen angesehen. "Ich war nicht eingeladen", sagt sie. Stattdessen habe sie zu Hause in einer persönlichen Schweigeminute ihr Recht eingefordert. "Bis zur letzten Minute der Eröffnungsrede habe ich gehofft, dass Rogge doch noch etwas sagen wird. Der Slogan von London ist ja ,Inspire a Generation‘. Was passt besser dazu, als dieses Gewaltverbrechen der Vergangenheit zu verurteilen, um die Werte der Olympischen Spiele für die neue Generation zu unterstreichen?"