Der indische Autor Abhishek Saha über die von der Modi-Regierung vorangetriebenen Staatsbürgerschaftstests.
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Unter den Starreportern Indiens, mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern nach China das bevölkerungsreichste Land der Welt, ist er einer der jüngsten: Abhishek Saha, 31 Jahre alt, hat sich dank seiner langjährigen Arbeit in den Krisenregionen seiner Heimat längst einen Namen gemacht, der über ihre Grenzen hinaus strahlt. Der studierte Zivilingenieur begann seine Karriere 2014 bei der "Hindustan Times", mit einer Auflage von rund einer Million Stück nach der "Times of India" und "The Hindu" die drittgrößte englischsprachige Zeitung Indiens. Für sie berichtete er unter anderem aus Kaschmir, einer Provinz, die seit Jahrzehnten als Zankapfel zwischen Indien und Pakistan gilt.
Seit vier Jahren arbeitet Saha als Reporter für die Tageszeitung "Indian Express". In diesem Jahr veröffentlichte Saha das Buch "No Land’s People - The Untold Story of Assam’s NRC Crisis" (HarperCollins), eine Bestandsaufnahme der Situation im Bundesstaat Assam, wo der harte Anti-Ausländer-Kurs der konservativ-autoritären Regierung unter Premier Narendra Modi (Bharatiya Janata Party-BJP, im Amt seit 2014) für andauernde internationale wie für Proteste in Indien sorgt. Sahas Bezug zu Assam, einer im Norden an Bhutan und im Süden an Bangladesch grenzenden Provinz zu Füßen des Himalaya, ist ein persönlicher: Seine Großmutter, die aus einer Hindu-Familie stammt, wanderte nach der Trennung des Subkontinents 1947 in einen indischen und einen pakistanischen Teil nach Assam ein.
Wiener Zeitung: Herr Saha, in ihrem Bestseller "No Land’s People" zeichnen Sie nach, wie Ihre Heimatprovinz Assam zum Ground Zero für Identitäts- und Nationalitätsfragen in Indien wurde. Warum nimmt gerade Assam, mit knapp mehr als 30 Millionen Einwohnern eher einer der kleineren Bundesstaaten, diese Rolle ein?Abhishek Saha: Das Buch ist das Ergebnis von drei Jahren Berichterstattung aus einer Provinz, die seit Jahrhunderten von Einwanderung, Auswanderung und damit einhergehenden Fragen von Religion, Nationalität und Identität geprägt ist. Das war während der britischen Kolonialzeit (1858 bis 1947, Anm.) nicht anders als heute. Was Assam besonders macht, ist seine geografische Lage. Auch wenn es hier eine relativ große Präsenz der indischen Armee gibt, ist die Hauptstadt Neu-Dehli weit weg - nicht nur, was die physische Distanz angeht, sondern auch gefühlt. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, gab es hier immer schon einen ausgeprägten regionalen Nationalismus.
Die Implementierung des NRC (National Register for Citizens, Anm.), des zentralen Verzeichnisses aller indischen Staatsbürger, war per se keine schlechte Sache. Sie sollte dazu beitragen, endlich jene Fragen klären, die für den Staat und seine Verwaltung essenziell sind. Fragen wie: Wer in Assam ist ein Inder oder eine Inderin? Wer ist ein Staatsbürger von Bangladesch und wer keiner? Das Problem ist, dass es dabei auch um Machtfragen geht. Die Mitglieder jener Gruppe, die sich quasi als Ureinwohner Assams empfinden, verfolgen andere Interessen als viele Muslime, die aus dem heutigen Bangladesch kamen und zu verschiedenen Zeitpunkten dort ansässig wurden.
2015 begann die NRC-Einführung in Assam, das dadurch zur Pilotprovinz wurde. Sieben Jahre später steht Neu-Dehli vor einem Scherbenhaufen. International wie intern hagelte es Kritik, weil vier Millionen in Assam lebende Menschen - die meisten davon Muslime - unter teils haarsträubenden Umständen zu unerwünschten Ausländern beziehungsweise zu Staatenlosen erklärt wurden. Auch wenn es aufgrund von politischen Widerständen mittlerweile "nur noch" 1,9 Millionen und die Urteile noch nicht rechtskräftig sind: Wie konnte es so weit kommen?
Die Hindu-Nationalisten in Assam tun sich schon immer schwer damit, jemanden als "vollwertigen" Inder anzuerkennen, dessen Familie ursprünglich aus dem heutigen Bangladesch stammt. Außer er oder sie ist selbst Hindu, aber selbst das reicht ihnen meistens nicht. Das ist der Punkt, wo sich die Interessen der BJP-Regierung in Neu-Dehli mit denen jener lokalen Eliten treffen. Was nichts daran ändert, dass sich ursprünglich auch viele Muslime in Assam für das NRC einsetzten, weil sie sich davon eine formale Bestätigung ihres Status als indische Staatsbürger versprachen.
Mit offenbar fatalen Konsequenzen.
Muslime sind unbestritten überproportional von den Maßnahmen der Regierung betroffen, aber es gibt auch Hindus, die zu Staatenlosen erklärt wurden. Sie müssen in diesem Zusammenhang vor allem eines verstehen: Als das zentrale Verzeichnis für Staatsbürger beschlossen wurde, kam niemand auf den Gedanken, dass es nur ein paar Jahre später von einer rechten Hindu-Regierung für ihre nationalistische Agenda instrumentalisiert werden könnte. Aber genau das ist in Assam passiert. Es gab Leute, die sich das Leben nahmen, als sie erfuhren, dass sie vom einen Tag auf den anderen mit einem Federstrich die indische Staatsbürgerschaft verlieren würden.
Wie aus Ihrem Buch hervorgeht, war auch Ihre eigene Familie indirekt betroffen.
Ich selbst bin in Indien geboren, aber ein Teil meiner Familie stammt ursprünglich aus dem, was zuerst zu Ost-Pakistan und später zu Bangladesch wurde. Meine Großmutter wanderte Ende der Vierzigerjahre nach Indien ein, kurz nach der Teilung. Auch wenn sie nie offiziell für staatenlos erklärt wurde, wurde ihre indische Staatsbürgerschaft bereits in den Neunzigern in Zweifel gezogen. Deshalb schien ihr Name erst gar nicht in dem neuen Register auf.
Geht es der Modi-Regierung und ihren lokalen Verbündeten in Assam am Ende des Tages nicht einfach nur darum, die muslimische Minderheit in Indien weiter zu marginalisieren?
Die offizielle Version der BJP lautet: Wir haben nichts gegen Muslime, nur etwas gegen illegale Einwanderer aus Bangladesch. Den religiösen Aspekt lässt man gern unter den Tisch fallen, auch wenn jeder weiß, dass er eine wichtige Rolle spielt. In Assam pflegen die lokalen Hindus, aber auch manche Muslime, traditionell eine exklusive Vision von Indien. Eine besondere Rolle spielt in diesem Kontext der 24. März 1971. Das ist jener Tag, an dem in Bangladesch der Unabhängigkeitskrieg begann. Laut den NRC-Regeln gelten heute nur jene Menschen als indische Staatsbürger, die zu diesem Zeitpunkt bereits in Indien lebten. Alle, die später kamen, gelten als illegale Einwanderer, offiziell ungeachtet ihrer Religion. Selbst wenn man diesen Stichtag als legitim erachtet, liegt der Kern des Problems aber darin, dass es sich bei den Leuten, denen aus heiterem Himmel die Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, fast immer um arme Menschen handelt, die teilweise nicht einmal lesen oder schreiben können.
In Ihrem Buch haben Sie zahlreiche dieser Fälle - manche davon wahre Horrorgeschichten - dokumentiert.
Viele dieser Leute besitzen zwar offizielle Dokumente, die ihre Identität belegen und auch, dass sie und ihre Familien teilweise seit Jahrzehnten in Indien leben, aber das reicht oft nicht. Gleichzeitig erwiesen sich die formal unabhängigen, de facto aber sukzessive von der BJP und ihren lokalen Gefolgsleuten besetzten Tribunale in Assam, die über den Status dieser Menschen entscheiden sollten, als reine Willkürgerichte. Die meisten schienen einzig und allein darauf aus zu sein, so viele wie nur irgend möglich zu illegalen Ausländern und zu Staatenlosen zu erklären.
Während nationalistische Politiker aus aller Herren Länder, allen voran der frühere US-Präsident Donald Trump, die Modi-Regierung für ihren harten Kurs beklatscht haben, sind in der westlichen Presse in den vergangenen Jahren regelmäßig Artikel erschienen, die die NRC-Implementation kritisch kommentiert und - wie Sie selbst es in Ihrem Buch machen - zahllose Menschenrechtsverletzungen in Assam nachgewiesen haben. Was hat dieser internationale Aufschrei bewirkt?
In Assam wie in Neu-Dehli gab es viele Stimmen, die ihn als falsch empfanden, als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Indiens. Erst als langsam aber sicher Proteste gegen das NRC im ganzen Land begannen, bekam die Regierung kalte Füße. Das passierte aber erst ab 2019. Mit ihrer damaligen Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes, das eine leichtere Einbürgerung von Hindus, Sikhs und von Mitgliedern vier anderer Minderheiten aus Bangladesch, Pakistan und Afghanistan vorsah - also praktisch alle, nur keine Muslime - kam die BJP noch durch, aber dann wurde der Widerstand zu groß. Im Grunde geht es bei all diesen Geschichten nur um eines: Um die Idee von dem, was Indien heute ist und was es sein will, um die Identität des Landes im 21. Jahrhundert. Die Vision der Modi-Regierung und der meisten ihrer Wähler ist eine dezidiert nationalistische, deren kennzeichnendes Merkmal die dominierende Stellung des Hinduismus in Politik und Gesellschaft ist.
Wie geht es jetzt weiter in Assam und mit dem NRC?
Niemand weiß es. Das Problem ist derzeit quasi eingefroren. Die Lokalregierung in Assam hat nur prinzipiell klar gemacht, dass ihr die Zahl der Menschen, die sie zu illegalen Ausländern beziehungsweise staatenlos machen will, nicht weit genug geht.
Noch eine Frage zu Ihrer Arbeit: Wie sich im Oktober herausstellte, war auch Indien vom Pegasus-Skandal betroffen, im Zuge dessen bekannt wurde, dass die Modi-Regierung zehntausende Smartphones von Journalisten, NGO-Repräsentanten und Oppositionsabgeordneten hacken hatte lassen. Auch wenn Regierungsvertreter das bestreiten - Indiens Oberster Gerichtshof veranlasste jüngst eine offizielle Untersuchung der Vorwürfe. Wie groß ist das Problem?
Als das Ausmaß von Pegasus klar wurde, war ich geschockt - nicht zuletzt, weil zahlreiche meiner Kollegen und Bekannten betroffen waren. Was soll ich Ihnen sagen: Wenn man eines Morgens aufwacht und erfährt, dass die Nachrichten, die man diesen geschickt hat, überwacht und irgendwo von irgendwem zu welchem Zweck auch immer gespeichert wurden, wird man ziemlich nervös. Wenn man wie ich als Journalist in Kaschmir und Assam arbeitet, bekommt man dabei mehr als ein mulmiges Gefühl.