Die Debatte um Rechtsstaatlichkeit und EU-Förderungen vertieft einen schon länger schwelenden Streit.
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Liberum Veto: Auf diese Errungenschaft des 17. Jahrhunderts waren Polens Adelige stolz. Im dezentralisierten Königreich konnten Einzelne durch ihr Einspruchsrecht im Adelsparlament Entscheidungen hinauszögern oder gar verhindern. Von einigen als ein Instrument der Machtbalance betrachtet, trug es aus der Sicht etlicher Historiker dann zu einer fatalen Entwicklung bei: politische Schwächung und Zerfall des Staates, der von benachbarten Mächten annektiert wurde.
Das Einstimmigkeitsprinzip gilt Jahrhunderte später auch in der Europäischen Union, zumindest in manchen Bereichen. Vetodrohungen sind darin eine Taktik, die Mitgliedstaaten immer wieder anwenden - und das seit den Anfangszeiten der Gemeinschaft.
Doch auch wenn Polen und Ungarn die Blockadehaltung keineswegs erfunden haben, wiegt das aktuelle Patt in der Budgetdebatte schwerer als so manch anderes Veto davor. Denn die Zeit drängt: Können sich die Regierungen nicht auf den Finanzplan der Union bis 2027 final einigen, können auch nicht die Corona-Hilfen für besonders von der Pandemie getroffene Länder fließen. Noch dazu geht es um Prinzipien: die Rechtsstaatlichkeit und ihre Durchsetzbarkeit. Dass dies mit der Auszahlung von EU-Förderungen verknüpft werden soll, stößt in Budapest und Warschau auf Ablehnung - und dafür nehmen die Länder, die zu den größten Empfängern der Subventionen gehören, sogar finanzielle Wirren in Kauf.
Der Streit überschattete das virtuelle Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag, das sich gemeinsamen Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus widmen wollte. Doch geschwelt hat der Zwist schon lange vor der jüngsten Eskalation. Er bringt die gesamte Union in die Bredouille: Etliche Politiker, darunter EU-Parlamentarier, argumentieren, dass die Gemeinschaft bei der Verteidigung ihrer Standards nicht nachgeben, sich nicht erpressen lassen darf.
Von Verteidigung - der eigenen Souveränität - und Erpressung ist allerdings auch in den Kabinetten in Warschau und Budapest die Rede, bloß umgekehrt als Vorwurf an die EU gerichtet. Es ist eine Zerreißprobe, nicht die erste für die EU.
Staaten in die Pflicht nehmen
"Die Vetodrohung muss nicht die ganze Union sprengen", beruhigt Raphael Bossong von der in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Dennoch handle es sich um eine schwere Krise. "Ansonsten werden Auseinandersetzungen mit Geld zugeschüttet oder mit einem anderen Kompromiss gelöst", sagt der Wissenschafter. "Doch hier geht es um einen echten ideologischen Konflikt."
Bossong plädiert dafür, als Hüter der Verträge nicht nur die EU-Kommission und den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in die Pflicht zu nehmen, sondern auch die Mitgliedstaaten. Diese könnten etwa ihre Verantwortung im sogenannten Artikel-7-Verfahren übernehmen, das die Kommission gegen Polen eingeleitet hat. Sie sieht die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr, nachdem die nationalkonservative Regierung umstrittene Postenbesetzungen und Reformen durchgeführt hat. Doch das EU-Verfahren stockt seit Jahren: Eine Abstimmung zu weiteren Schritten scheitert am Unwillen der Länder.
Diese sollten aber "aus der Deckung kommen", meint der SWP-Experte. Andernfalls könnten EU-Kritiker die Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit allzu leicht als "ein Problem übergriffiger supranationaler Institutionen" darstellen - was Regierungsvertreter in Budapest und Warschau tatsächlich tun. Auch jetzt, in den Finanzdebatten, hätten die Mitgliedstaaten laut Bossong die Möglichkeit, ihre Verantwortung zu zeigen.
Entsprechend fieberhaft wurde in den Hauptstädten nach Lösungen gesucht. Vor allem Deutschland, das derzeit den EU-Vorsitz innehat, drängt auf einen Kompromiss. Andere Staaten pochen nicht nur auf Rechtsstaatlichkeit, sondern auch auf haushaltspolitische Kontrolle in jenen Ländern, die von den Corona-Hilfen profitieren. So bezeichnete der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz vor der virtuellen Zusammenkunft mit seinen Amtskollegen "Reformen und Rechtsstaatlichkeit" als "Basis" für die Auszahlung von EU-Geld.
Spekuliert wurde außerdem darüber, wie das Veto Ungarns und Polens umgangen werden könnte. Denkbar wäre ein Vertrag unter den anderen 25 EU-Regierungen: Die Grundlage für den Corona-Wiederaufbaufonds wäre dann ähnlich wie jene für den Euro-Rettungsschirm ESM. Das allerdings löst demokratiepolitische Bedenken in manchen Ländern aus.