EVP-Mitglieder dürften zunehmend EU-kritisch werden.
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"Wiener Zeitung":Wie homogen sind eigentlich die Mitglieder der Europäischen Volkspartei?André Krouwel: Nicht allzu sehr. Da gibt es viele Unterschiede. Das betrifft einerseits die Links-rechts-Ausrichtung im politischen Sinne, andererseits die pro- beziehungsweise antieuropäische Haltung. Aber das ist normal. Die Parteien müssen ihren nationalen Gegebenheiten Rechnung tragen. Das ist an sich kein Charakteristikum der EVP, das gibt es auch bei anderen Parteifamilien. Bei der EVP kommt allerdings hinzu, dass sie so unterschiedliche Strömungen wie Christlichsoziale, Konservative und Halbliberale integriert. Ideologisch ist sie weniger kohärent als etwa die Sozialdemokraten, die Grünen oder die Liberalen.
Warum wirft man überhaupt so viele unterschiedliche Strömungen in einen Topf?
Der Grund, dass so viele Parteien Mitglied der EVP sein wollen, ist, weil es die größte Gruppe ist. Da bringt es klare Vorteile, dabei zu sein. Selbst Parteien, die grundsätzlich überhaupt nicht christdemokratisch oder konservativ sind, gehören gerne der Gruppe an, die die Königsmacherin der EU ist.
Das heißt Quantität vor Qualität?
Nein. Das sind hochqualifizierte Politiker und Parteien. Es geht einfach mehr um Macht als um ideologische Kohärenz. Die Mitglieder der EVP sind ziemlich tolerant, wenn es um ideologische Unterschiede geht, weil sie genau wissen, dass sie so an Macht gewinnen und ihre eigenen Leute in verschiedenste wichtige Positionen der EU hieven können. Sie können sich wahlweise die Sozialdemokraten und die Liberalen aussuchen, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Das ist der Vorteil, die größte Parteiengruppe zu sein.
Eine große Gemeinsamkeit gab es aber: Bei den Wahlen 2009 waren fast alle Mitglieder der EVP auf einen proeuropäischen Kurs eingeschworen. Ist das nach wie vor so?
Das muss man genauer aufschlüsseln. Ja, sie sind proeuropäisch. Aber das ist, weil EVP-Mitglieder überproportional oft in ihren Ländern auch die Regierung stellen. Das zwingt sie gewissermaßen, nicht antieuropäisch zu sein. Nach außen hin sind diese Parteien proeuropäisch, aber innerhalb der Partei gibt es durchaus antieuropäische Kräfte. So etwas kann man etwa bei den Konservativen in Großbritannien beobachten oder den meisten konservativen Parteien in Osteuropa. Es ist weniger so, dass sie enthusiastisch proeuropäisch wären als vielmehr pragmatisch, weil es ihnen auf nationaler und supranationaler Ebene Macht verleiht.
Die Tories haben die EVP bereits verlassen. Könnten andere folgen?
Ich vermute, dass es zu einem Bruch innerhalb der EVP kommen wird. Solange sie weitgehend aus christdemokratischen Parteien bestand, war sie kohärent und dominant. Die Integration konservativer Parteien hat diese Kohärenz und Dominanz der Parteifamilie zerstört. Das war der Anfang vom Ende. Ich denke, dass sie auseinanderfallen wird und die konservativen Parteien entweder einen eigenen Block gründen oder sich der antieuropäischen Gruppe anschließen werden. Nach den Europawahlen 2014 wird es sowohl links als auch rechts eine beträchtliche Anzahl an antieuropäischen Parteien geben. Die rechten Parteien werden versuchen, ein neues Bündnis zu schmieden. Geert Wilders in den Niederlanden und Marine LePen in Frankreich sind jetzt gerade dabei, eine Koalition quer durch Europa aufzubauen. Ich könnte mir vorstellen, dass es ihnen gelingt, auch Mitglieder der EVP abzuwerben. Das vergrößert die Bedrohung für die EVP umso mehr. Auf einmal gäbe es dann zwei oder sogar drei Parteigruppen. Das wiederum würde bedeuten, dass sie nicht mehr die Größten sind und viel an Einfluss verlieren werden.
Worin sehen Sie dieses Auseinanderdriften begründet?
Zuerst einmal im Niedergang der Christdemokraten in Europa. Bis auf Deutschland und Österreich haben die sonst nirgends ihre Stärke bewahren können. Italien, Niederlande, Belgien, Frankreich: Überall sind sie kollabiert. Die alten Volksparteien sind tot. Was jetzt noch übrig ist, sind die konservativen Gruppen. Bei diesen entsteht aber ein weiterer Riss durch die Kultur- und Immigrationsthematik. Solange es nur um die Wirtschaft ging, hatten sie einen gemeinsamen Nenner. Nun, da es zunehmend um Nationalismus geht, stimmt die Rechte nicht mehr überein. Diese Spaltung innerhalb der christdemokratischen und konservativen Gruppe ist so stark, dass sie nicht mehr als kohärenter Block agieren kann.
Wäre es nicht gerade wegen des Machterhalts unklug, die EVP zu verlassen?
Es wäre für sie natürlich unvorteilhaft, nicht zusammenzubleiben. Sie würden dann den Sozialdemokraten Macht geben, die übrigens auch gerade zerfallen. Einige Parteien haben ja bereits die Sozialistische Internationale verlassen und versuchen, eine progressivere Allianz zu formen. Das Problem der EVP ist aber, dass einige Parteien zu Hause Probleme haben, einen proeuropäischen Kurs aufrechtzuerhalten. Sie brauchen Platz, um eine EU-kritische Haltung einnehmen zu können. Das gilt vor allem für osteuropäische Parteien, wo sich stark nationalistische Tendenzen abzeichnen.
Was könnte eine Spaltung verhindern?
Der geeignete Spitzenkandidat. Die Sozialdemokraten haben mit Schultz ihren Kandidaten bereits so gut wie sicher. Ein starker EVP-Kandidat mit der Aussicht, Kommissionspräsident zu werden, könnte die ganzen Parteien hinter sich versammeln. Zu sehen, dass man einen Kandidaten hat, der Schultz schlagen kann, das könnte die Parteien dazu bringen, zusammenzuarbeiten.
Lassen Sie uns einen Blick auf die EU-Wahlen 2014 riskieren. Wie könnte das Szenario in einem Jahr aussehen?
Es könnte letztlich drei rechte Blöcke geben: die ursprüngliche EVP, die weichen konservativen EU-Kritiker und die EU-Gegner. In diesem Fall hätten die Sozialdemokraten gute Chancen, die größte Gruppierung zu werden. Eine Koalition könnte nötig werden, etwa zwischen der EVP und den Liberalen, um eine Mehrheit zu stellen. Letztlich könnte das Europäische Parlament polarisierter als je zuvor dastehen.
André Krouwel ist Professor für Politikwissenschaften an der Freien Universität Amsterdam. Er leitet das "Centre for Internet, Democracy and Elections" in Amsterdam. Mit seinem Team erstellt er für Medien rund um den Globus Wahlhilfe- und -umfrageprogramme - den sogenannten Wahlkompass.