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Es geht weiter: Europa tastet sich vorwärts

Von Martyna Czarnowska und Alexander Dworzak

Politik
© Creative Commons - Guillaume Baviere-Flickr, Furfur, Gerald Jatzek

Allen Unkenrufen zum Trotz wird die EU im Jahr 2017 nicht zerbrechen.


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Brüssel. Es wird ein schönes Fest werden. Ja, doch, die Europäische Union hat im kommenden Jahr auch Grund zu Feiern. Wenn die Spitzenpolitiker der EU im März in der italienischen Hauptstadt zusammenkommen, werden sie den 60. Jahrestag der Römischen Verträge begehen. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist es her, dass die Vertreter von Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden die Dokumente unterzeichneten und damit - unter anderem - die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begründeten. Die Vorbereitungen zu den Jubiläumsfeierlichkeiten gingen aber in einer anderen Hauptstadt über die Bühne, der Kapitale eines Staates, den es noch gar nicht gab, als die Deutschen und die Franzosen ihre Versöhnung besiegelten.

Im September 2016 trafen die Staats- und Regierungschefs der EU einander in Bratislava zu einem Gipfeltreffen, an dem die Briten nicht mehr teilnahmen. Es galt, Einigkeit nach dem britischen Votum über einen EU-Austritt zu demonstrieren, den Bürgern zu vermitteln, dass deren Sorgen ernst genommen werden, Hoffnung für Europa zu signalisieren. Der "Fahrplan von Bratislava" wurde fixiert, auch mit dem Ziel, in Rom ein Dokument zu verabschieden, das die Bedeutung der Gemeinschaft nochmals bekräftigt. Zu dem Zeitpunkt wird die Slowakei ihren EU-Ratsvorsitz bereits für sechs Monate an Malta übergeben haben.

Die beiden Länder sind der Union, die Italien mitbegründet hat, 2004 beigetreten, Jahrzehnte nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge. Doch wen kümmert noch das Friedensprojekt, das damals beschworen wurde? Was zählen die hehren Ideen zu wirtschaftlichen und persönlichen Freiheiten, einer liberalen Gesellschaft oder Grundwerten, die noch in der Zeit der Aufklärung formuliert wurden? Die EU sei nur noch ein Schatten ihrer selbst, unken Skeptiker; sie sei am Zerbrechen und Untergehen. Die Eurozone sei bedroht, nicht nur durch die Finanznöte Griechenlands, die noch immer nicht gelöst sind, sondern auch Italiens, das nach dem Verfassungsreferendum erst wieder zu einer stabilen Regierung finden musste.

Eine Poly-Krise als Herausforderung

Apropos ungelöst: Das gilt auch für die Flüchtlingskrise, für die in vielen Ländern hohen Arbeitslosenraten, für die Probleme mit wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheiten, mit Steuerungerechtigkeit, mit maroden Bankenhäusern, mit Populisten, mit Nachbarn wie Russland oder die Türkei und so weiter. Die Osteuropäer wollen nicht zur Aufnahme von Flüchtlingen, die Südeuropäer nicht zu rigiden Sparvorgaben verpflichtet werden. Auf das Ausscheiden Großbritanniens folgt vielleicht auch noch ein Austritt Frankreichs, wenn Marine Le Pen im Frühling die Präsidentschaftswahl gewinnt, und in den Niederlanden, wo schon im März gewählt wird, kommen möglicherweise die Rechtspopulisten um Geert Wilders zum Zug. Im September steht in Deutschland dann das Votum über den künftigen Bundestag an, und Kanzlerin Angela Merkel wird den schwankenden Kontinent auch nicht mehr retten können.

Solche Untergangsszenarien dominieren die Debatte um die nahe Zukunft der EU. Warnungen vor einem Auseinanderbrechen, Kleinmut und Verzagtheit quer über den Kontinent, alles schwer und düster - lichtere und leichtere Momente werden gleich erdrückt. Hysterie ist en vogue, und Gelassenheit gerade nicht so in Mode.

Doch so wie es die Poly-Krise ist, die Anhäufung der Probleme, die Europa zu schaffen macht, so könnten die Herausforderungen eben auch einzeln betrachtet werden. Blickt die EU dann noch immer in den Abgrund?

Für die Zukunft der Europäischen Union ist die Präsidentschaftswahl in Frankreich der wichtigste nationale Urnengang 2017. "Brüssel" stehe laut Marine Le Pen für Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und Masseneinwanderung. Die Chefin des rechtsextremen Front National (FN) verspricht ein "Frexit"-Referendum binnen sechs Monaten, sollte sie im Mai gewählt werden. Im Verhältnis zur Union stellt der FN gleich viererlei in Aussicht: erstens die "volle gesetzgeberische Souveränität". EU-Recht wäre damit nationalem Recht untergeordnet. Zweitens die "alleinige und totale Hoheit" über die Grenzen, somit das Ende des Schengen-Abkommens. Drittens die "völlige monetäre Souveränität" Frankreichs. Ein Austritt aus der Eurozone wäre unausweichlich. Und viertens würde sich Frankreich jeder Kontrolle des Staatshaushalts durch die EU-Kommission verweigern.

Rechts und Rechtsaußen wollen radikalen Wandel

Gewinnt dieses Programm der Renationalisierung, bedeutet das nicht nur den Ausstieg Frankreichs aus der Union. "Ohne Frankreich macht die EU keinen Sinn mehr", räumt FN-Vizevorsitzender Florian Philippot ein - lächelnd. Derzeit wollen 45 Prozent der Bürger in der Union bleiben, ein Drittel ist laut Umfrage des "Figaro" für den "Frexit". 22 Prozent geben keine Antwort, es besteht also Potenzial für den FN.

Um zu siegen, müsste Le Pen den traditionellen Schulterschluss gegen die extreme Rechte durchbrechen. Zwar gilt ihr Einzug in die Stichwahl als fix. Doch dann droht die Wiederholung von 2002: "Besser der Dieb als der Faschist", lautete damals das Wahlmotto der Linken. Der Gaullist Jacques Chirac wurde mit 82 Prozent gegen Marine Le Pens Vater Jean-Marie ins Amt gehoben.

Auf einen Republikaner wird Le Pen allem Anschein nach 2017 in der Stichwahl treffen: François Fillon. Nachdem die sozialistische Partei in Trümmern liegt, hoffen die FN-Gegner auf den Ex-Premier. Sein Vorwahlsieg gegen den moderaten Alain Juppé machte deutlich, dass die Konservativen keinen linksverträglichen Konsenskandidaten wollen und sich die Anhänger ebenfalls nach radikal anderen Antworten auf ihre Probleme sehnen. Jeder zehnte Franzose hat keinen Job, bei den Jungen sind es gar knapp 25 Prozent. In François Hollandes Amtszeit betrug das Wirtschaftswachstum seit 2012 zwischen läppischen 0,18 und 1,27 Prozent.

Während Le Pen auf Abschottung und Staatsinterventionen setzt, propagiert Fillon die ökonomische Öffnung: Die 35-Stunden-Woche wäre perdu, das Pensionsalter würde von 62 auf 65 Jahre erhöht werden - Le Pen dagegen will es auf 60 Jahre senken. Fillon möchte jede zehnte Staatsstelle streichen; 500.000 Beamte wären davon betroffen.

Diese Ansagen eröffnen dem FN Chancen, schließlich stehen insbesondere Arbeiter und Kleinunternehmer Fillons Liberalisierungspolitik skeptisch gegenüber. Bereits jetzt sind die Rechtsextremen stärkste Arbeiterpartei, und auch bei Staatsbediensteten zusehends populär.

Gleichzeitig müssten gesellschaftspolitisch Linke Fillon dermaßen ablehnen, dass sie den Urnen fernbleiben. Der 62-Jährige ist der Kandidat des ruralen Frankreich, viele städtische Wähler fremdeln mit ihm.

Wenn und aber, hätte und müsste. Die Aussichten auf einen Einzug Le Pens in den Élysée-Palast sind sehr mit Konjunktiv verbunden. Der Ultimative: Wie würde sich ein islamistischer Angriff während des Wahlkampfes auswirken? 230 Terror-Todesopfer hat Frankreich seit 2015 zu beklagen, so viele wie kein anderes europäisches Land.

Zeichen auf Kabinett Merkel IV

Während in Frankreich sowohl Le Pen als auch Fillon einen Bruch bedeuten, stehen in Deutschland die Zeichen auf ein Kabinett Merkel IV. "Liebe Bürger, Sie kennen mich. Wir hatten vier gute Jahre." Mit zwei Sätzen gewann Angela Merkel das TV-Duell 2013 gegen ihren SPD-Konkurrenten. Von ihr geschützt vor Eurokrise, Massenarbeitslosigkeit und Schuldendilemma, befanden sich die Deutschen im weltpolitischen Kokon. Das wäre womöglich so geblieben, hätte die Kanzlerin nicht die Folgen der Grenzöffnung 2015 derart unterschätzt.

Geringerer Popularität infolge ihrer Flüchtlingspolitik, Zwist in der konservativen Union und dem Aufkommen der Alternative für Deutschland (AfD) zum Trotz: Bei der Bundestagswahl im Herbst werden CDU/CSU aller Voraussicht nach deutlich siegen; bis zu 37 Prozent werden der Union derzeit prognostiziert. Das sind deutlich weniger als jene 41,5 Prozent 2013 und Merkel muss sich anrechnen, der von internen Streitereien zerfressenen AfD neues Leben eingehaucht zu haben. Aber in keiner Umfrage schafft die nationalkonservativ-populistische Gruppierung momentan mehr als 13 Prozent. Für deutsche Verhältnisse ist das viel, im Vergleich zu Österreich (FPÖ), Frankreich (Front National), Niederlande (Partei für die Freiheit), Schweden (Schwedendemokraten), Ungarn (Fidesz) oder Polen (Recht und Gerechtigkeit, PiS) aber ein geradezu läppischer Wert.

Demokratiepolitisch viel schwerer als der AfD-Aufstieg - mit ihr will niemand koalieren - wiegt, dass nach der Bundestagswahl wieder Schwarz-Rot droht. Anders als in Österreich ist die deutsche große Koalition ein Sonderfall. Dass die Linkspartei als derzeit größte Oppositionskraft nicht einmal zehn Prozent der Wähler für sich reklamieren kann, schnürt dem Berliner Parlamentarismus die Luft ab. Die fehlenden Debatten zwischen den Volksparteien sind Wasser auf den Mühlen der AfD, die von "Einheitsparteien" schwadroniert.

Egal ob Parteichef Sigmar Gabriel oder der frühere EU-Parlamentspräsident Martin Schulz ins Rennen gegen Merkel geht: Die SPD dümpelt um 25 Prozent. Nichts bewegt sich auch ob einer Koalition mit den Grünen und der Linkspartei. In Kernfragen der BRD-Identität wie der Nato-Mitgliedschaft ist die Linke weiterhin nicht paktfähig.

Merkels größte Gefahr im Wahlkampf ist daher, dass die eigenen Funktionäre nicht für sie laufen. An der Basis war das Murren über ihren Flüchtlingskurs groß. Eine zugkräftige Alternative zur seit 2005 amtierenden Ostdeutschen gibt es jedoch nicht. Der Parteitag im Dezember zeigte aber den Autoritätsverlust der Kanzlerin: Die Delegierten sprachen sich dafür aus, die mit der SPD ausgehandelte doppelte Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern zu kippen. Die Kanzlerin wird daher in den nächsten Monaten zwischen der Mitte, in die sie die CDU so konsequent geführt hat, und rechten Signalen in der Flüchtlings- und Migrationspolitik balancieren. Europapolitische Weichenstellungen - allen voran zur Zukunft der Währungsunion - werden hintenanstehen.

Diffizile Postenverteilung in den EU-Institutionen

Das könnte auch Berlins Interesse an den Personaldebatten verringern, die in den EU-Institutionen bevorstehen. Im Jänner wird ein neuer Präsident des EU-Parlaments gewählt, der Nachfolger von Martin Schulz. Die größte Fraktion im Abgeordnetenhaus, die Europäische Volkspartei (EVP), beansprucht den Posten für sich und hat Antonio Tajani zu ihrem Kandidaten gekürt. Auch andere Parteien haben ihre Bewerber schon aufgestellt.

Jedoch geht es dabei nicht nur um die Volksvertretung. Die Verteilung der Posten in der EU ist ein diffiziler Vorgang; Parlament, Kommission und der Vorsitz des Rates, der Staatenversammlung, bilden ein fein austariertes Gefüge, in dem parteipolitische Interessen ebenso zu berücksichtigen sind wie geografische Ausgewogenheit. Wenn aber Tajani tatsächlich an die Spitze des Abgeordnetenhauses wechselt, dann wäre er neben Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk der dritte Politiker aus den Reihen der EVP. Die Vorstellung gefällt den Sozialdemokraten gar nicht.

Das wiederum könnte Folgen haben für Tusk, dessen erste Amtszeit im Mai endet. Die Sozialdemokraten könnten den Posten für einen ihrer Vertreter beanspruchen.

Im Parlament selbst zeichnet sich bereits ein Ende der Konsenspolitik ab, die in den vergangenen Jahren die zwei größten Fraktionen wie eine Koalition aussehen ließen. Und der EU-Kommission geht ein starker Verbündeter verloren: Juncker und Schulz standen bei etlichen Zwistigkeiten mit den Mitgliedstaaten Seite an Seite und beschworen mehr europäische Einigkeit.

So könnten sich die politischen Gewichte zwischen den EU-Institutionen wieder verschieben - und das gilt erst recht für die Zusammenarbeit der Länder. Das Gremium der Mitgliedstaaten, die Versammlung der Minister sowie ihrer Staats und Regierungschefs ist jetzt schon mächtiger, als es dem Parlament etwa lieb ist. Getrieben von nationalen Interessen schaffen es die Politiker gerade einmal, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu kommen, lautet der Vorwurf aus dem Abgeordnetenhaus. Große Visionen, ein europäischer Geist seien da nicht zu finden.

Fließende Bündnisse statt starrer Machtblöcke

Dass sich das bald ändert, ist nicht absehbar. Keineswegs einzementiert sind aber die Bündnisse, die zwischen den Mitgliedstaaten entstehen, einmal enger, dann wieder lose werden. Ein Zentrum wird nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der Gemeinschaft wegfallen, das deutsch-französische Duo hat jetzt schon an Energie eingebüßt, und die Südeuropäer ringen mit jeweils unterschiedlichen wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Herausforderungen. Könnte aber die Achse Paris-Berlin um Warschau erweitert werden? Könnte die Visegrad-Gruppe aus Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien sich mit konstruktiven Vorschlägen einbringen, den auf sich konzentrierten Westen auch für Ost- und Mitteleuropa interessieren?

Diese Fragen mit Ja zu beantworten, fällt äußerst schwer. Die polnische Regierung beschränkt sich auf innenpolitische Scharmützel, und Budapest hat eigene Vorstellungen von der EU. Das hindert wiederum Österreich nicht daran, in manchen Bereichen mit Ungarn durchaus gut zusammenzuarbeiten.

Das macht jedoch auch deutlich, wie fließend Allianzen sind. Sie werden gebildet rund um Themen oder Einstellungen: Ob Energie, Grenzschutz, Haushaltsdisziplin oder Verteidigungspolitik - wer geschickt genug ist, Verbündete um sich zu scharen, kann in der EU mehr erreichen. Starre Machtblöcke sind kaum mehr haltbar, Überlegungen zu einem Kerneuropa bringen daher wenig.

Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten aber ist längst Realität. Es gibt die Schengen-Zone, den Euro-Raum, es gibt Ausnahmeregeln, die sich nur bestimmte Länder zu Nutzen machen können. Daraus ergeben sich manchmal Frust, manchmal Streit aber manchmal auch Chancen. Am Projekt EU wollen immerhin bis auf Großbritannien alle Mitglieder weiter arbeiten. Es wird ein mühsames Vorwärtstasten sein - aber es geht weiter.