Bei früh verstorbenen Musikern werden oft Spekulationen angestellt, wie ihr weiteres Leben verlaufen wäre - zum Beispiel jenes von Jim Morrison.
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David Bowie, berühmt geworden als androgyner Außerirdischer in futuristischen und crosssexuellen Outfits, sucht nach einer (selbst)destruktiven Zeit in Los Angeles als "Thin White Duke" künstlerische Inspiration in der Mauerstadt Berlin. Jim Morrison, alkoholkranker Sänger der Doors, entzieht sich in Paris, wo er mit seiner heroinsüchtigen Lebensgefährtin Pamela Courson in der Rue Beautreillis Quartier bezogen hat, dem Zugriff der US-Justiz, die ihn wegen "obszönen Zurschaustellens" beim berüchtigten Miami-Konzert 1969 zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt hat.
Mit einigermaßen frivoler Verschmelzung ungleicher Zeitebenen - Bowie befindet sich eindeutig in den mittleren 70er Jahren, Morrison dagegen im Jahr 1971 - bringt der oberösterreichische Autor Kurt Leutgeb in seinem neuen Roman "Berlin & Paris" die beiden Superstars auf Augenhöhe zusammen - "den geschniegelten, penibel gekleideten David, dessen Seele eine Bügelfalte hat, und den lässigen, nonchalanten Morrison, dessen langes Haar so frei ist wie der Kopf unter ihm".
Leutgeb lässt einen von Drogen und öffentlichen Diffamierungen infolge seiner benebelten Flirts mit der Nazi-Ideologie ausgezehrten Bowie ein Verhältnis mit Pamela eingehen und - in Morrisons stinkender Lederhose - in der Rue Beautreillis in der Badewanne an einer Überdosis Heroin sterben.
Morrison aber übernimmt Bowies leere Wohnung in Berlin und bekommt allmählich seine Dämonen in den Griff. Mit einem Gedichtzyklus (über Bowie) erfährt er nun auch die lange ersehnte literarische Anerkennung. Mit seiner ersten Frau zieht er Ende der 70er Jahre nach Madrid, wo seine Tochter zur Welt kommt und "Jim in der Aufbruch- und Freiheitsstimmung nach dem Ende der Franco-Diktatur seine vielleicht glücklichsten Jahre verbringt".
Nach dem Ende seiner ersten Ehe lässt sich Morrison in New York nieder. Er feiert ein Comeback als Musiker und landet mit einem Duett mit Mick Jagger einen Smash-Hit. Dem neuen Erfolg folgt ein Rückfall in Exzesse, der abrupt endet, als Morrison seine zweite Frau kennenlernt. Mit ihr und der gemeinsamen Tochter widmet er sich in Upstate New York dem Familienleben. Eine Wiedervereinigung der Doors für ein Konzert in Berlin bleibt ein singuläres Ereignis. Nach dem Ende seiner zweiten Ehe lässt sich Morrison, von gesundheitlichen Problemen heimgesucht, des einfacheren Zugangs zu medizinischer Versorgung wegen wieder in Manhattan nieder und stirbt dort kurz nach seinem 75. Geburtstag.
Bei kaum einem Pop-Star ist so häufig wie bei Jim Morrison erwogen worden, was aus ihm geworden wäre, hätte er nicht im Juli 1971 im Alter von 27 Jahren das Zeitliche gesegnet. Morrison ist für solche Gedankenspiele insofern ein ergiebiges Subjekt, als sich sein Aktionsradius nicht auf die Musik beschränkte. Vor der Gründung der Doors hatte er Film studiert. Er führte Regie und spielte die Hauptrolle bei einem Filmfragment mit dem Titel "HWY: An American Pastoral", das allerdings wenig Enthusiasmus bei Sehern und Kritikern hervorrief. Sein tiefster Wunsch war es indes, als Lyriker respektiert zu werden.
Zwei Gedichtbände belegen ein gewisses literarisches Talent, das aber für nachhaltigere Ergebnisse einer sorgfältigeren Pflege bedurft hätte, als sie ihm Morrison in seinem kurzen Leben zukommen hatte lassen.
Auch John Lennon hat, während er mit den Beatles die Musikgeschichte umschrieb, zwei Bücher veröffentlicht. Die Kurzgeschichten und Nonsens-Gedichte leben nicht schlecht von Lennons ironischen Wortspielen und -verdrehungen.
Vielleicht hätte es der Künstler zum Literaturpreisträger bringen können, spekulierte der Publizist und Kabarettist Guido Tartarotti am 8. Dezember 1980 zum 40. Jahrestag von Lennons Ermordung im "Kurier". Aber auch, dass er womöglich bei "Dancing With The Stars" oder gar "Dschungelcamp" mitgemacht hätte. Oder zurückgezogen mit seiner Frau Yoko Ono "seinen Bio-Garten bestellen, atonale Symphonien für Klavier, Rasenmäher und vier Zucchini komponieren, avantgardistische Origami-Kunstwerke aus veganem Käse falten würde". Die "Berliner Zeitung" wiederum sieht Lennon als Unterstützer Barack Obamas und 2010 (als 70-Jährigen) mit Yoko auf Welttournee gehen.
Für manche vielleicht erstaunlich, zählte zu den künstlerischen Multi-Talenten auch der 1977 im Alter von 29 Jahren tödlich verunglückte T.-Rex-Frontmann Marc Bolan. Die durch einen Autounfall terminierte Zukunft des Sängers und Gitarristen, dessen Hits der frühen 70er von etlichen Verächtern als eindimensional verworfen wurden, sieht sein Produzent Tony Visconti (der bekanntlich auch für David Bowie an den Reglern saß) 2007 im Magazin "Classic Rock" im Schauspiel und dem Schreiben von Drehbüchern. Eine Rockoper mit dem Titel "The Children Of Rarn" sei bereits in Arbeit gewesen.
Soulsängerin Gloria Jones, die den Unfallwagen steuerte, glaubt, ihr Lebensgefährte würde Musik und Filme machen und familiäres Glück mit ihr und dem gemeinsamen Sohn in Malibu genießen. Das Wichtigste für die Fans: "Er wäre immer noch scharf und gutaussehend."
Viele Gedankenspiele werden auch über das "Nachleben" von Jimi Hendrix angestellt. Nicht selten kommen sie zum Schluss, dass der im September 1970 mit 27 Jahren verstorbene Rock-Innovator ein Opus Magnum in der Art einer gigantischen E-Gitarren-Symphonie herausgebracht hätte. In einem amerikanischen Magazin wurde die These aufgeworfen, dass sich Hendrix verstärkt für die afroamerikanische Bevölkerung engagiert hätte. In aller Vorsicht abgewogen, hat diese Vermutung manches für sich. Hendrix, dessen Musik ein überwiegend weißes Publikum ansprach, bekundete - wenn auch unter Ablehnung von Gewalt - Sympathie mit den Zielen der Black-Panther-Bewegung. Und dass er im September 1969 ein Gratiskonzert in Harlem gab, wo er noch unter erbärmlichen Umständen gelebt hatte, belegt sein Bedürfnis nach Zuwendung an die und aus der Black Community.
Platz für Phantasie
Bei den meisten in jungen Jahren dahingeschiedenen Popstars sind Zukunftsperspektiven freilich auf den musikalischen Aspekt beschränkt. Janis Joplin, 1970 an einer Heroin-Überdosis verstorben, wird in Internet-Foren als Folge ihres Lebensstils eine Krise prophezeit, aus der sie günstigenfalls geläutert herausgekommen wäre. Bei Amy Winehouse, 2011 verstorben, gelingt diese Vorstellung schon nicht mehr - die Tragödie sei eine Frage der Zeit gewesen, wird meist in den Foren konstatiert.
Auch beim 1969 aus ungeklärter Ursache in seinem Swimmingpool ertrunkenen Rolling-Stones-Gitarristen Brian Jones scheint es kaum eine Alternative zum fatalen Lauf der Dinge zu geben. Kurt Cobain, dem Impulsgeber des Grunge, der sich 1994 erschossen hat und wie die letzten drei davor Genannten 27 Jahre alt wurde, wird hingegen von BBC online ein Altern als störrisch-unberechenbarer Individualist der Marke Bob Dylan beschieden.
Vom Soul-Sänger Otis Redding (26), der 1967 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, wird ein stärkerer Drift Richtung Psychedelia vermutet, den bereits sein posthumer Hit "(Sittin’ On) The Dock Of The Bay" andeutete. Bei Sam Cooke (33) und Marvin Gaye (44), die beide eines gewaltsamen Todes durch Schusswunden starben, wird nicht mehr und nicht weniger erwartet, als dass sie weitergemacht hätten wie zuvor.
Anders beim 1991 verstorbenen Freddie Mercury: Nachdem seine Band Queen schon in den 80er Jahren zu einer Art Relikt zu werden drohte, mutmaßt der YouTube-Kanal "Life’s Biggest Questions", dass nach ihrer Auflösung der Sänger eine eigenwilligere Wegrichtung eingeschlagen hätte.
Reichlich Platz lassen der Phantasie die Schicksale jener drei Stars, die am 3. Februar 1959 mit dem Flugzeug in Clear Lake, Iowa, abstürzen. Insbesondere Buddy Holly (22) und Ritchie Valens (17) waren noch sehr jung und hatten dabei schon ein umfangreiches, einflussreiches Werk geschaffen. Das dritte Opfer, Jiles Perry Richardson Jr. alias The Big Bopper, mit 29 etwas älter, war als Radio-DJ bekannter denn als Sänger und hatte Evergreens wie "Running Bear" oder "Chantilly Lace" geschrieben. Für alle drei entwirft eine amüsante Geschichte auf dem Portal gonzotoday.com ein erfülltes Leben nach dem Tod.
The Big Bopper hätte sich im gemeinsamen Tour-Bus, in dem die Heizung ausgefallen war, einen kleinen Zeh abgefroren, später die bis dahin bestbezahlte Fernsehshow moderiert, sich als Countrymusiker neu erfunden, mit 50 den Rückzug aus dem Musik-Business angetreten, wäre mit 58 für eine Oldies-Show noch einmal zum Radio zurückgekehrt und 2003 von dieser Welt gegangen.
Ritchie Valens, der sich bereits als Songautor profiliert und mit seiner Adaption des Volksliedes "La Bamba" wegweisende Arbeit für die Symbiose aus mexikanischer und amerikanischer Populärmusik geleistet hatte, hätte bis 1962 eine Hitserie hingelegt, ehe er seine Lebensliebe Donna Ludwig geheiratet hätte. Mitte der 60er hätte sich Valens nach einem kleinen Karriereknick der Latino-Rock-Band Santana angeschlossen und beim Woodstock-Festival Furore gemacht.
Nach der Trennung von Santana wäre er in den frühen 80ern von Neo-Rockabilly-Acts neu entdeckt worden und mit ihnen auf Tour gegangen. Ende der 90er hätte er sich wieder mit Carlos Santana zusammengetan und mit ihm das Bestseller-Album "Supernatural" gemacht. Nach Übernahme und Weiterverkauf eines Labels hätte sich Valens zurückgezogen und wäre 2022 gestorben.
Die Gitarre spielt weiter
Buddy Holly hätte von der "British Invasion" profitiert, indem er ein paar Hits für die Beatles produziert und Acts wie die Animals, die Kinks oder die Zombies für sein neugegründetes Label gewonnen hätte. Ab den frühen 70er Jahren hätte er die Plattenfirma Richtung Country umgepolt und bis in die 90er die erfolgreichsten Platten des Genres hervorgebracht. Dann hätte auch er sich ins Privatleben zurückgezogen und wäre 2021 im Alter von 84 Jahren gestorben.
Einer von Hollys imaginären frühen Hits wäre übrigens seinem Freund Eddie Cochran gewidmet gewesen, der im April 1960 im Alter von 21 Jahren in England bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Bei dem rebellischen Rock ’n’ Roller ("Summertime Blues") sind die Nachwirkungen seines Abgangs besonders mystisch, nicht nur weil sein posthumer Hit "Three Steps To Heaven" hieß. Dieser hatte notabene einen speziellen Impact auf David Bowie, der das Gitarren-Riff eins zu eins für seine Velvet-Underground-Hommage "Queen Bitch" verwendete und den Titel im Text zu seinem sinistren Stück "It’s No Game" zitierte.
Außerdem aber riss sich ein junger Polizist namens David Harman Cochrans Gretsch(guitar) unter den Nagel, um unter dem Namen Dave Dee als Sänger, Songwriter und später als Talente-Scout ihr Vermächtnis weiterzutragen. So hat Cochrans Gitarre auf gewisse Weise noch lange nach dem Ableben des Musikers weitergespielt.
Kurt Leutgeb
Berlin & Paris
Roman. Sisyphus Verlag, Wien 2023, 280 Seiten, 23,- Euro.
Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in Wien und ist ständiger Mitarbeiter der" music"-Seite im "extra" der "Wiener Zeitung".