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Der streitbare polnische PiS-Politiker Ryszard Legutkoim kritisiert die liberale Ideologie, die seiner Ansicht nach in Europa herrscht.
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"Wiener Zeitung": Ihre zweite Auslandsreise führte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Polen. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind schon seit Monaten angespannt. Und generell steht Polen in der EU derzeit im Fokus der Kritik. So hat die EU-Kommission gegen das Land erstmals ein Grundrechtsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags eingeleitet. Wäre es da in dieser Situation nicht besser für die polnische Regierung, etwas leiser aufzutreten?
Ryszard Legutko: Ich glaube nicht, weil der Streit um die Justizreform in Polen im Grunde kein juristischer Streit ist. Die EU-Kommission verfügt über keine juristischen Expertisen, welche zeigen würden, dass diese Reformen nicht rechtmäßig sind. Es ist ein politischer Konflikt. Die Kommission will ganz einfach nicht akzeptieren, dass es in Polen eine konservative Regierung gibt, die vom Mainstream in Europa abweicht.
Warum soll das so sein? Es gibt schließlich in Europa genug Länder mit konservativen Regierungen.
Weil in dem neuen Mainstream in Europa die traditionellen Unterschiede zwischen Rechts- und Linksparteien immer undeutlicher werden. Die bisherigen Rechten sind ziemlich stark nach links gerückt, die Linken ein wenig nach rechts. Jeder, der heutzutage die traditionelle Rechte repräsentiert, passt da nicht mehr ins Bild. Abweichler werden mit äußerster Härte attackiert - so war es etwa im Falle Ungarns. Es bricht sofort eine hysterische Stimmung aus, und jedem, der dem Mainstream widerspricht, wird gleich die politische Legitimation abgesprochen.
In Ihrem Buch "Der Dämon der Demokratie" kritisieren Sie die heutige liberale Demokratie scharf. Sie sehen sogar Ähnlichkeiten mit dem Kommunismus. Ist dieser Vergleich nicht ziemlich überzogen?
Ja und nein. Ich möchte die beiden Systeme natürlich nicht gleichsetzen, der Kommunismus war diktatorisch und brutal. Dennoch sind manche Tendenzen, die sich heute in der liberalen Demokratie zeigen, gefährlich. Gewöhnlich wird die liberale Demokratie ja mit einem Vielparteiensystem, mit Werten wie Freiheit und Vielfalt assoziiert. In dieser perfekten Welt wäre sozusagen alles in Ordnung, gäbe es da nicht böse Abweichler wie diesen Autokraten aus Polen, dem wahrscheinlich lieber wäre, autoritär zu regieren. Ich sage: Nein, es ist umgekehrt! Die Tendenz zum Despotismus gibt es heute im System der liberalen Demokratie. Es ist ein wohlwollender, sanfter und wohltuender Despotismus, wie ihn schon Alexis de Tocqueville beschrieb.
Gewöhnlich werden aber Despotismus und Liberalismus als absolute Gegensätze gesehen. Was sollen die beiden Haltungen gemein haben?
Das Problem des Gesellschafts-Liberalismus ist, dass er sich über alles andere stellt. Die Liberalen behaupten, für die Freiheit zu kämpfen. Wird es aber in ihrer Gesellschaft auch Platz für Ideen außerhalb des liberalen Mainstreams geben? Ideen und Ideale wie Tugend und Familie etwa, absolute ethische Standards. Die Liberalen sagen dann: Ja, natürlich. Aber sie handeln nicht danach, sie treten machtvoll und bestimmend auf, etwa im Schulwesen. Der Liberalismus ist heute leider ein System, das alles durchdringt, das sich überall einmischt.
Ein solches System wird aber in der Regel als totalitär bezeichnet. Ist diese Art Liberalismus wirklich totalitär?
Generell ja. Dazu kommt, dass dem Menschen in der liberalen Ideologie eine sehr sterile Rolle zugewiesen ist. Er hat keine stärkeren Ideale oder Eigenschaften. Und warum? Weil die schon als illiberal verpönt wären. Die Liberalen sagen, dass sie für Freiheit stehen. Gleichzeitig geben sie ihre Denkweise als einzig wahre Art zu denken aus. Ich sehe das deutlich im EU-Parlament. Fast alle sprechen sich dort für Freiheit und Diversität aus. Es gibt nur wenig Abweichler. Wenn einmal alle Abgeordneten das Gleiche sagen, hat dann nach dieser Logik die Diversität ihren absoluten Höchststand erreicht.
Aber heißt, dass man sich für Freiheit und Diversität ausspricht, nicht, dass man jedem Menschen das Recht zubilligt, zu sagen und zu denken, was er will?
Theoretisch ja. Praktisch ist es aber wie in dem berühmten Spruch von Henry Ford: Sie können Ihr Auto in allen möglichen Farben haben - vorausgesetzt, es ist schwarz. Die Ideologie des heutigen Mainstreams ist überaus aggressiv und darauf ausgerichtet, ihre Widersacher zu eliminieren und zu marginalisieren. Die Liberalen mischen sich überall ein, etwa im Bereich der Erziehung, wo man die Kinder und Jugendlichen von klein auf indoktriniert. Ich kenne das noch aus der Zeit des Kommunismus. Eine der ekelhaftesten Eigenschaften dieses Systems war, sich überall einmischen zu müssen: in die Privatsphäre, ins Familienleben. Heute ist es ähnlich. Die Liberalen sagen, das Private ist politisch. In manchen Ländern darf ich als Katholik heute die Kinder nicht so erziehen, wie ich will. Ich könnte, wenn ich es doch mache, Schwierigkeiten bekommen.
Könnte ein Grund für die heutige Spaltung zwischen Ost- und Westeuropa die Studentenrevolution von 1968 sein, die sich im Westen vollzogen hat? Sie hat ja in Westeuropa und in den USA zu einem kulturellen Umbruch geführt.
Bis zu einem gewissen Grad würde ich dem zustimmen. Uns in Polen war damals nicht bewusst, wie tiefgreifend diese Revolution im Westen war - dass sie gegen die Grundlagen der westlichen Zivilisation gerichtet war, gegen die Universitäten, gegen die Metaphysik, gegen die Familie. Wir haben diese Revolte eher als Spiel gesehen von Leuten, die viel Geld haben und ihren Spaß haben wollen. Ein Beispiel illustriert den Unterschied ganz gut: Im Westen wurde damals unter dem Motto "Free speech" unter anderem für das Recht demonstriert, öffentlich fluchen zu dürfen. Bei uns in Polen gab es inzwischen ein graues kommunistisches System, das ein Stück von Adam Mickiewicz, dem größten polnischen Dichter, vom Spielplan genommen hat. Das ist natürlich etwas ganz anderes. Wir waren hinter dem Eisernen Vorhang abgeschottet, die 1968er-Revolution fand bei uns nicht statt. Man hat zwar versucht, das nach 1989 irgendwie nachzuholen, insgesamt hat diese Gegenkultur die polnische Gesellschaft aber nicht so stark beeinflusst wie den Westen.
Wenn man aber den Liberalismus des Westens ablehnt, woran soll sich Polen dann orientieren? In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass der Sturz des Kommunismus den osteuropäischen Nationen die "einmalige Gelegenheit" gegeben habe, ihre "je eigenen Institutionen zu entwickeln". Leider sei diese Gelegenheit verspielt worden. Man habe "nicht kreativ, sondern konformistisch" gehandelt und das westlich-liberale Modell übernommen. Wie aber hätten die "eigenen Institutionen" denn aussehen sollen?
Das orientiert sich an den Traditionen des jeweiligen Landes. Es gibt da keine reinen Lösungen, die für jedes Land passen, weil die historischen Erfahrungen der einzelnen Staaten sich unterscheiden. Es klingt wahrscheinlich gewagt, aber im letzten Jahr des zerbröckelnden Kommunismus herrschte in Polen ein viel stärkerer Geist der Freiheit als in der darauffolgenden Periode. Die Türen standen offen, viele Ziele waren verfolgbar. Wir haben überlegt, wie wir die Universitäten reformieren sollten. Ich war damals traurig, dass 90 Prozent meiner Kollegen gemeint haben, wir sollten das gleiche System einführen wie in den USA oder sonst wo. Ich halte das für falsch. Diese sehr polnische Neigung zur Imitation hat mich immer schon geärgert.
Wenn man aber nun ein System nach dem in Polen tradierten konservativ-katholischen Weltbild schaffen würde, das Sie und Ihre Partei vertreten - hätte man dann nicht erst recht wieder ein Problem mangelnder Freiheit? Schließlich gibt es auch in Polen Menschen, die nicht in die Kirche gehen, und auch viele Gesellschaftsliberale.
Nun, im Moment haben wir ja eher das Problem, dass manche Minderheiten der Mehrheitsgesellschaft ihr Lebensmodell aufzwingen wollen, etwa bei der Frage der Abtreibung. Ich weiß nicht, warum die Diktatur der Liberalen als freiheitlich bezeichnet wird, während Konservative die große Bedrohung der Freiheit darstellen sollen. Es ist genau umgekehrt. Unsere Gesellschaften werden im Moment von liberalen Gesellschaftsingenieuren einem gigantischen Experiment unterzogen, das mich tatsächlich an die Zeit des Kommunismus erinnert.
Die gesellschaftliche Spaltung in Europa hat bedrohliche Ausmaße angenommen, es scheint immer schwieriger, Brücken zwischen den verfeindeten Lagern zu schlagen. Lässt sich doch noch ein gemeinsamer Nenner finden?
Wenn ich ehrlich bin: Ich glaube nicht, dass sich das in nächster Zukunft machen lässt. Die Liberalen sollten zunächst einmal ihre Kritiker nicht als Xenophobe hinstellen, die man einschüchtern und bekämpfen muss - mit allen gesetzlichen und außergesetzlichen Mitteln. Sie sollten den Ist-Zustand annehmen, also den Umstand, dass die Gesellschaft gespalten ist. Erst wenn man die Existenz und Legitimität des Anderen akzeptiert, kann man über einen Modus Vivendi sprechen.
Ryszard Legutko ist ein Philosoph und Politiker der
nationalkonservativen polnischen Regierungspartei Recht und
Gerechtigkeit (PiS). Seit 2009 ist er Abgeordneter der PiS im
Europäischen Parlament. Legutko, der mehrere Bücher unter anderem über
Plato verfasst hat, gilt als schroffer Kritiker der heutigen EU.