Vom Suchen und Finden, vom Verlieren, Vergessen und Wiederentdecken von "Daheim" und "Zuhause" aus der Sicht Anerkannter, Arbeitssuchender, Heimkehrer, Verlorener und Flüchtender.
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"Die Heimat ist …" – "Ich finde, jeden Satz der beginnt mit ‚Die Heimat …‘ sollte man gleich streichen, weil da kommt nur Unfug raus, wie die Heimat ist das Rapsfeld, die Heimat sind die Berge", meinte der Autor Ilija Trojanow kürzlich in einem Interview. "Es ist ein völlig überholter Begriff – alleine schon deswegen, weil er nur im Singular existiert und wir inzwischen wissen, dass unsere modernen Identitäten so was von vielschichtig und mehrdimensional sind", so Trojanow. Daher auch seine Empfehlung, man solle den Begriff erst gar nicht mehr verwenden, zumal er ja aufgrund dieses Singulars immer etwas Ausschließendes hat. "Weil sie meine ist, ist sie nicht deine. Du gehörst nicht wirklich dazu, du verstehst das auch nicht. Es wird oft vermittelt, dass es etwas sei, in das man hineingeboren werden muss, und nur dann kann es ein beseeltes Verhältnis zur eigenen Heimat sein. Das entspricht nicht den modernen Realitäten, in denen die Mehrheit der Menschen in irgendeiner Weise geistig oder körperlich unterwegs ist."
Gibt es keine Heimat mehr? Was ist Heimat überhaupt? Ist "Daheim" die bessere Begrifflichkeit? Daheim-Sein in mehreren Heimaten? Wieso auch nicht. Immer nur an einem Ort, ein fixer Job, immer der gleiche Freundeskreis, der gleiche Partner? Ist Familie "Daheim", weil sie die Konstante ist? Jene Gruppe von Menschen, die man sich nicht aussuchen konnte, im besten Fall aber vorbehaltlos liebt oder sich mit ihr bestmöglich arrangieren muss? Wenn die realen Aufenthaltsorte, die Lebensmittelpunkte und Lebensabschnittspartner wechseln, bieten dann soziale Netzwerke wie Facebook einen sicheren Heimathafen? Egal, wo man sich selbst gerade befindet, mein Facebook und meine in der virtuellen Welt stets präsenten Freunde aus der Realität sind da. Alleine und doch nicht allein. Vereint am Bildschirm. Über das Internet mit Skype auch in Bild und Wort verbunden.
Irritiert sein
Warum aber verlässt man seine Heimat überhaupt? Kann man "Heimat" – etwa das Geburtsland – verlassen und trotzdem immer daheim sein? "Nach ein paar Monaten an einem Ort werde ich unruhig. Nach ein paar Jahren in einer Lebenssituation werde ich auch unruhig, dann suche ich nach neuen Herausforderungen und Aufbrüchen", so Trojanow. Diese Herausforderungen sind es auch, die andere Menschen "ins Ausland", an fremde Orte und neue Aufbrüche bringen. In der modernen Arbeitswelt sind Aufenthalte im Ausland längst Usus geworden. Ob es nun ehemalige Piloten der AUA sind, die in Singapur als Wirtschaftsflüchtlinge ihr Glück versuchen, oder Sportler und Forscher, die im Ausland bessere Bedingungen vorfinden. Konstantin Mitgutsch ging 2009 an das renommierte MIT in Boston, um dort als Forscher und Lektor für Computerspielforschung erfolgreich tätig zu sein. Seine Frau folgte ihm nach einem Jahr, zurückgekommen sind sie erst kürzlich, im Gepäck viele Erkenntnisse, spannende Einblicke, zwei Kinder und die Erfahrungen des Bombenanschlages beim Boston Marathon.
"Daheim sein ist für mich, berührt zu sein, irritiert zu sein, sich positionieren zu müssen. Ein Sich-reiben an den eigenen Wurzeln, an Menschen, die einem etwas bedeuten, an einem Land das einem etwas bedeutet, ob man will oder nicht. Spannend finde ich den Moment, an dem mir ein neuer Ort so viel bedeutet, dass er mich wieder irritiert, dass ich irritiert bin über die Menschen und ihr Verhalten", so Mitgutsch. Aber was ist dann eigentlich Heimat für Menschen, die im Ausland arbeiten? "Die Frage der Heimat – als Österreicher habe ich zu Österreich ein ambivalentes Verhältnis, habe einen eigenwilligen Patriotismus, der darauf hinausläuft, dass ich Österreich immer das Beste wünsche und mich trotzdem immer sehr viel ärgern muss über das Land, immer wieder erschrocken bin über die Politik, immer wieder erschrocken bin über die Engstirnigkeit der Österreicher, die dann aber auch gleichzeitig eine gewisse Stabilität darstellt. Was mir am meisten auffällt, was für mich am meisten Heimat bedeutet hat in dieser Zeit, war ein Irritiertsein. Wenn in den USA politisch etwas passiert ist, und es ist viel passiert, dann hat mich das eigentlich nicht wirklich tangiert, ich habe es eher verfolgt. "
Ein Wendepunkt war das Attentat in Boston. "Das hat mich wirklich stark getroffen. Ich habe so was noch nie erlebt. Das Attentat beim Marathon, an einem Ort, wo wir in den letzten Jahren waren, wo wir auch diesmal gerne mit unseren Kindern hingegangen wären. Es war immer ein Familienevent, an dem wir aus verschiedenen Gründen diesmal nicht teilgenommen haben." Man traf sich stattdessen mit Freunden im Park. "Auf einmal hieß es, dass es einen Anschlag gegeben hat, und im ersten Moment haben wir gar nicht realisiert, was es wirklich bedeutet. Es wurde dann nach und nach klar, dass es den Bombenanschlag gegeben hat, dass wirklich unschuldige Zivilisten getötet und verletzt wurden", erzählt der Wissenschafter. "Das Attentat war neben meinem Büro, die Tankstelle, an der das Auto übergeben wurde, war unsere Tankstelle, einer der Attentäter lebte einen Block neben uns." Als die Anweisung kam, zuhause zu bleiben, war die Familie daheim. Die Straße, in der sie gelebt haben, war leergefegt und nur Polizeiautos fuhren vorbei. "Das war das erste Mal in den vier Jahren, dass ich mich auch wirklich als Bostoner gefühlt habe und eben auch wieder irritiert war und ein Gefühl gehabt habe, dass die Menschen hier einander geholfen haben. Es wurde keine Hetze betrieben, man hat versucht, damit umzugehen", beschreibt Mitgutsch seine Eindrücke. Ob das Thema Sicherheit und der Anschlag den ausschlaggebenden Grund für die Heimkehr gaben? "Wir wussten vorher schon, dass wir nachhause gehen werden. Es war eher das Gegenteil. Aus Sicherheitsgründen wollte ich nicht nachhause gehen."
Die Rückkehr nach Österreich hatte mehrere Gründe, darunter auch Familie und Freunde in Österreich. "Familie und Freunde, mit denen wir für unsere Kinder Kontakt haben wollten, haben uns bewegt. Ich habe Lust empfunden, das, was mir gut gefallen hat, die Offenheit und Professionalität in den USA nach Österreich mitzunehmen. Ich bin gespannt, wie lange wir es schaffen werden, diese Zufriedenheit aufrechtzuerhalten. Weil ich erkenne, wie viele Leute gar nicht sehen, wie privilegiert Österreich eigentlich ist – das Sozialsystem, die Lebensqualität, die Produkte, die man einkaufen kann. Es ist weltweit beinahe einzigartig, wie man in Österreich leben kann, und dafür gibt es einfach viel zu viele angefressene Gesichter. Die Menschen könnten und sollten ein Stück näher zusammenrücken und offener zueinander sein. Und auch ein bisschen mehr begeistert für das, was hier ist. Weil es auch darum geht, dass wir auf einem Stück Land leben, das einzigartige Bedingungen hat und das sehr gut dasteht in einer Zeit der Krise."
Ein normales Leben
Auch Marlene Losbichler hat es der Arbeit wegen ins Ausland verschlagen. Sie ist für ein heimisches Möbelhaus als Trendscout in Asien unterwegs. Von Hongkong aus wirft sie einen Blick auf die Entwicklungen und die Neuerungen am asiatischen Markt und reflektiert über ihr "Zuhause". "‚Daheim‘ ist für mich kein fixer Ort. Ich war seit meiner Kindheit nie auf mein Zuhause fixiert und wollte eigentlich immer schon weg. Solange die ‚Grundbedürfnisse‘ gedeckt sind, kann ich mich fast überall leicht einleben und wohlfühlen. Es klingt vielleicht komisch, aber wenn ich etwas vermisse, dann ist es höchstens Österreich als ganzes Land, aber nicht explizit meinen Heimatort", so die Globetrotterin. "Nach einiger Zeit beginnt man das Zuhause zu vergessen beziehungsweise denkt seltener darüber nach, was gerade daheim passiert. Für mich ist der aktuelle Aufenthaltsort wichtiger und interessanter als der Klatsch und Tratsch in Österreich. Ehrlich gesagt verliert man zunehmend das Interesse." Können Facebook, Skype und Co Heimat ersetzen? "Wenn man etwa in Österreich in eine andere Stadt zieht, von Wien nach Salzburg oder so, ändert sich auch alles und man wechselt seinen Bekanntenkreis. Mit den alten Freunden kommuniziert man hauptsächlich über Internet und Apps. Ich glaube, die eigentliche Entfernung ist egal, Facebook und Whatsapp sind die wichtigen Instrumente, um in Kontakt zu bleiben." Und was ist dann eigentlich das richtige Zuhause? "Ich würde sagen, es ist immer dort, wo ich gerade für längere Zeit bin. Meine Wohnung in China ist mein aktuelles Hauptzuhause, das ich vermisse, wenn ich woanders unterwegs bin."
Man muss aber nicht immer gleich ins Ausland gehen, um mit dem Thema "Daheim" konfrontiert zu werden.
"Meistens habe ich nur gewohnt"
Gerade was den Bereich der Abwanderungen von ländlichen Gebieten in die Stadt betrifft, etwa um zu studieren oder beim Arbeitsplatzwechsel, kommt es auch innerhalb Österreichs immer wieder zur Frage "Wo bist du denn nun zuhause?". So etwa bei Daniela, 36, aus Oberösterreich, die nach dem Studium in Salzburg gleich nach Wien weiterzog. "Für mich ist daheim nicht so von Bedeutung. Dachte ich zumindest lange Zeit. Ich bin oft umgezogen, dahin, wo Job oder Uni waren. Mir war es eigentlich egal, wo ich wohne. Hauptsache eine Wohnung." Der sentimentale Rückblick auf die Stadt kam erst, wenn wieder weitergezogen wurde. "Plötzlich sah ich die schönen Seiten der Stadt, die mich vorher oft nur genervt hat. Mir fällt dazu der Slogan eines Möbelhauses ein: Wohnst Du noch oder lebst Du schon? Meistens hab ich wohl nur gewohnt." Die Suche nach einem Daheim, einem Zuhause, dürfte ein elementares menschliches Bedürfnis sein, zumindest für viele.
Suche und Flucht
"Irgendwie war ich wohl immer auf der Suche. Oder auf der Flucht oder beides. Auf zwei Dinge bin ich draufgekommen. Ich muss in einer Stadt einfach nur lange genug leben, um sie schätzen zu lernen. In Wien – und ich habe Wien anfangs gehasst – dauerte es etwa vier Jahre. Mittlerweile will ich hier nicht mehr weg. Aber daheim? Ich hab so lange gesucht, dabei war die Lösung ganz einfach. Daheim fühle ich mich da, wo ich aufgewachsen bin. Liegt eigentlich auf der Hand. Bei mir hat es aber gedauert. Ich bin mit zwanzig ausgezogen. Damals wollte ich nur weg. Ich habe mein Daheim nie als besonders schön wahrgenommen. Erst als ein Verkauf des Hauses nach dem Tod der Eltern zur Debatte stand, sah ich den Wert des Daheims. Spät, aber noch rechtzeitig. Jetzt will ich mein Daheim von Neuem entdecken. Und mit jedem Mal habe ich es lieber. Das, wonach ich gesucht habe, war immer schon da. Es bedurfte einiger Einschnitte, um das zu begreifen."
Die immer wieder und gerade jetzt im Wahlkampf aufkeimende Diskussion um Asyl und Flucht vergisst nicht die Auseinandersetzung um die eigene Heimat, wohl aber die um die der Flüchtlinge. Aber was ist die Heimat für Menschen, die auf der Flucht sind? Khan Adalat, 48 Jahre, ist seit neun Jahren auf der Flucht, war lange in Griechenland, ist seit knapp 20 Monaten in Österreich und stammt ursprünglich aus dem Swat-Tal in Pakistan. Er sagt: "Zuhause oder Heimat ist dort, wo man ein normales Leben führen kann, wo man einen legalen Aufenthalt hat. So gesehen bin ich in meiner Heimat noch nicht angekommen. Mein Leben war in Pakistan unsicher, viele meiner Angehörigen wurden ermordet. Doch auch meine jetzige Situation in Österreich und in Europa ist alles andere als sicher. Ich muss jederzeit mit einer Abschiebung rechnen. Ich kann mich nicht bilden, darf nicht arbeiten und es ist mir sozusagen unmöglich, für mich selbst zu sorgen."
Nisar Ali, 22 Jahre alt, ebenfalls aus dem Swat-Tal in Pakistan: "Heimat ist für mich der Ort, an dem man frei ist – frei von Sorgen, frei von Nöten und frei von Angst. Ich habe diesen Ort noch nicht gefunden. Ich würde mich gerne bilden, ein selbstbestimmtes Leben führen und auf eigenen Beinen stehen. Doch auch meine Zukunft ist ungewiss. Dabei wollen wir nur dieselben Chancen wie viele andere Menschen auch."
Nicht nur Erwachsene, sondern gerade auch Jugendliche und Kinder, die vielleicht als Baby in ein neues Land kommen, wissen wenig über ihr "Herkunftsland". Wenn ein Kind nach einer Flucht irgendwo gelandet ist, so ist es nach zehn Jahren nicht mehr ein Flüchtling, sondern dort zuhause. Die Abschiebung ist daher keine Heimkehr, sondern wieder der Anfang einer Flucht und die Angst, erneut Veränderung durchmachen zu müssen. Hamid Alizada, ein 16-jähriger Bursche aus Afghanistan, der seit Mai im Caritas-Haus St. Gabriel für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wohnt: "Heimat ist für mich ein Ort, wo man in Frieden leben kann, nicht Krieg führen muss und miteinander auskommt. So wie in Österreich. In Österreich muss man keine Angst haben, dass man erschossen wird und auf der Straße draufgeht. Dort, wo man in Sicherheit leben kann, das ist für mich Heimat."
Der Autor Trojanow ist in Bulgarien aufgewachsen, über ein italienisches Flüchtlingslager nach Deutschland gekommen, hat in Kenia, Indien, Frank-reich und Südafrika gelebt und sich in Wien niedergelassen, weil es so "zentral am Rande" liegt, wie er sagt. Trojanow wurde ein angesehener Autor, jenen Menschen in der Votivkirche und später im Servitenkloster will man die Chance auf ein solides Leben allem Anschein nach nicht geben. Der Kampf der Kulturen als Schlagwort für die Ausgrenzung des Unbekannten. Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen. Genau das kann natürlich aber auch Konflikte beinhalten.
Vielleicht bleibt am Ende doch nur die Erkenntnis, dass "daheim sein", "Zuhause" und "Heimat" doch sehr individuelle und höchst unterschiedliche Gedankenkonstrukte sind. Der persönlichste Raum voller für Außenstehende vielleicht wirklich nicht nachvollziehbarer Eigenheiten. Oder wie Autor Norbert Gstrein in seinem neuen Buch "Eine Ahnung vom Anfang" seine Hauptperson sagen lässt: "Ich hatte gesagt, Heimat sei da, wo einem das Vertraute peinlich erscheine und das Peinliche vertraut."
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Print-Artikel erschienen am 30. August 2013 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal"