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"Es gibt keine Turbo-Radikalisierung"

Von Eva Stanzl

Politik

Der israelisch-arabische Psychologe Ahmad Mansour erklärt, warum Terror-Anschläge ansteckend sind.


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Massenmord an 84 Menschen in Nizza, vier Attacken in Deutschland und Mord an einem Geistlichen in Nordfrankreich: Sechs Anschläge in nur elf Tagen sind eine Gewaltwelle von horribler Intensität. Für Experten ist die zeitliche Häufung der Attentate kein Zufall. Der israelisch-arabische Psychologe Ahmad Mansour erklärt, warum Anschläge ansteckend sind und worin sich Terror-Attacken von anderen Arten des Amoklaufs unterscheiden. In Berlin arbeitet der Pädagoge in der Deradikalisierung muslimischer Jugendlicher.

"Wiener Zeitung":In Europa macht der Terror derzeit keine Pause. Was haben die Taten der letzten Tage gemeinsam?

Ahmad Mansour: Der Anschlag auf das Olympia-Einkaufszentrum in München hatte nichts mit Terror-Attentaten zu tun. Sondern das war ein Amoklauf, dessen Hintergründe wir erst verstehen müssen. Auch der Mord mit einer Machete an einer Frau in Reutlingen hat andere Motive. Die anderen Anschläge beruhen auf einer islamistischen Ideologie von wahrscheinlich labilen Menschen, die meinen, sie können durch ein menschenverachtendes, islamistisches Werte- und Ideologiesystem eine Art Anerkennung erringen.

Man geht von Einzeltätern aus, doch die Terrormiliz Islamischer Staat hat vier der Taten für sich reklamiert. Die Parole des IS an ihre Anhänger: Wartet nicht auf unsere Anweisungen, werdet selbst kreativ. Ein Erfolgsmodell des Terrors?

Der Islamische Staat steckt in Syrien und im Irak Niederlagen ein. Es ist ihm wichtig, seinen Anhängern zu vermitteln, dass er trotzdem nicht schwach ist. Deswegen beansprucht er die Anschläge für sich. Die Ideologie ist nämlich stärker als die Strukturen, manchmal gefährden Strukturen sogar das Vorhaben. Wenn ich einen Großanschlag plane, muss ich telefonieren, Emails schreiben, mich mit anderen treffen und laufe Gefahr, entdeckt zu werden. Einsame Wölfe können hingegen Attentate auf eigene Faust durchführen.

Was ist das Ziel der Attentate? Geht es um die Glaubensverbreitung darum, möglichst viele Menschen umzubringen, oder wollen die TäteAngst und Schrecken verbreiten?

Es geht um alles zusammen. Meistens sind das Menschen, die eine sehr große Krise durchmachen und mit dem Leben so unzufrieden sind, dass sie von einer lebensverachtenden Ideologie angesprochen werden. Wenn sie Gott zufrieden stellen, können sie das Leid, das ihnen hier widerfährt, gegen paradiesische Vorstellungen eintauschen, wird ihnen gesagt. Hinzu kommt eine Angst-Pädagogik: Du wirst im Paradies belohnt und in der Hölle bestraft. Wenn andere Religionen auch noch pauschal verachtet werden und der Islam in die Opferrolle gerückt wird, kann sich ganz schnell Hass entwickeln. Bei Menschen mit labilen Psychen kann diese Mischung zur Explosion führen.

Bei den Attentaten sterben die Täter. Was unterscheidet einen Selbstmordanschlag von anderen Formen des Suizids?

Die meisten Attentäter wollen nach der Tat nicht weiterleben, sondern bei dem Anschlag umkommen. Sie würden nicht alleine in den Freitod gehen, sondern sie wollen dabei andere töten, Europa weh tun, Anerkennung und Aufmerksamkeit bekommen und gleichzeitig ihr eigenes Leid beenden können. Problematisch ist diese Ideologie aber auch, wenn sie nicht Gewalt verherrlicht, sondern Gewalt ablehnt, wie wir an den türkischen Nationalisten merken.

Warum sind so viele Attentate in so kurzer Zeit passiert?

Das liegt am Nachahmungseffekt. Bei einer Häufung von Einzeltaten werden die einen durch die anderen inspiriert. Auch nicht-terroristische Amokläufer lassen sich von dieser negativen Stimmung anstecken. Leute, die den Entschluss lange in sich tragen, sehen die Nachrichten, verfolgen "Breaking News", lesen Postings in sozialen Medien, schauen Gewalt-Videos im Internet und hoffen, dass sie im Gesamtbild eine Rolle spielen können. Das Ganze passiert vor dem Hintergrund eines Terrorpotenzials, das wir in Europa seit Langem haben. Es gibt keine Turbo-Radikalisierung, bei der Menschen plötzlich diese Werte in sich tragen. Viele Islamisten sind auch keine Flüchtlinge, sondern leben schon lange hier, sprechen perfekt Deutsch und sind äußerlich ein Teil dieser Gesellschaft.

Wie können weitere Anschläge verhindert werden?

Wir müssen die Ideologie bekämpfen. Das ist vor allem ein pädagogischer Kampf. Wir müssen alles tun, um solche Jugendlichen vor den Islamisten zu erreichen. Und wir müssen den IS außerhalb Europas bekämpfen. Er betreibt Völkermord, das dürfen wir als Menschen nicht akzeptieren.

Die Anschlagserie zeigt: Bisher haben wir sie nicht erreicht. Was müssen wir anders machen?

Wir brauchen Schulen, die die Bedürfnisse dieser Jugendlichen aufgreifen und kritisches Denken fördern. Wir müssen die Lehrer befähigen, mit solchen Phänomenen besser umzugehen. Und wir müssen Elternarbeit leisten, damit sie radikale Tendenzen an ihren Kindern schneller erkennen. Wir brauchen neue Sozialarbeit im Internet: Dort müssen wir aufklären und Gegennarrative zu Verschwörungstheorien und hasserfüllten Ideologien schaffen. Die Sicherheitsapparate müssen diese Phänomene erkennen und entsprechend reagieren. Wir müssen wissen, wer zu uns kommt und brauchen Investitionen und Personal, um Flüchtlinge zu begleiten, um ihnen Zugänge zur Gesellschaft zu öffnen. Wenn Angela Merkel einfach sagt: Wir schaffen das, ist das für mich zu abstrakt.

Sie arbeiten bei der Beratungsstelle Hayar zur Deradikalisierung Jugendlicher. Wie funktioniert das?

Es ist eine langfristige Arbeit ohne Erfolgsgarantie. Wir arbeiten mit Familien, deren Kinder sich radikalisiert haben, begleiten Menschen, die aussteigen wollen und haben es geschafft, Jugendliche, die in der Szene sehr aktiv waren, von etwas anderem zu überzeugen. Die Mehrheit ruft nicht "ich bin radikal und brauche Hilfe", sondern öfter suchen uns Eltern auf. Mit ihnen trainieren wir, wie sie auf ihre Kinder einen positiven Einfluss nehmen können. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wonach diese Kinder suchen - eine Vaterfigur, Orientierung. Bei vielen Familien ist die Kommunikation gestört und fehlt die Bildung. Wenn wir es schaffen, das umzudrehen, sodass die Beziehung zwischen Eltern und Kindern wieder wichtig wird, kann das viel bewegen.

Sie waren als junger Mensch selbst Islamist. Was hat Sie zum Umdenken bewegt?

Ich war radikal und bin dankbar, dass ich damals nicht gewalttätig war. Aber ich habe Gewalt verherrlicht. Ein Glück war, dass ich nach fünf Jahren zum Studium den Ort gewechselt habe und meine Gruppe verlassen musste. Ich lernte andere Leute kennen, die eigentlich meine Feinde waren, und machte gute Erfahrungen mit ihnen. Die Literatur im Studium machte mich kritischer, und als ich sah, dass die Welt mehr anzubieten hatte als nur diese Ideologie und zu zweifeln begann, hatte ich Menschen an meiner Seite, die mich unterstützten. Ohne diese Menschen hätte ich das nicht geschafft.

Welche Rolle spielt Religion an sich bei Terror-Attentaten?

Was heißt Religion? Ich bin Muslim und für mich ist Religion Privatsache, ohne politische Dimension. Das hat mit solchen Taten nichts zu tun, weil ich kritisch mit Religion und den Texten umgehe. Andere Verständnisse von Religion und vor allem vom Islam haben viel mit solchen Taten zu tun. Wenn die Gesellschaft, in der wir leben, abgewertet und Sexualität, Gleichheit, Meinungs- und Religionsfreiheit verteufelt werden, schafft man die Basis, auf der Radikale aufbauen können. Wenn man die Menschen entmündigt, indem man ihnen sagt, sie müssen einfach die Texte befolgen, anstatt sie in ihrem lokal-historischen Kontext zu verstehen, spielt dieser Exklusivitätsanspruch in die Hände von Extremisten. Ein sehr konservatives Verständnis des Islam ist selbst, wenn es friedliebend ist, nicht bereit, Inhalte, die zur Radikalisierung führen, in Frage zu stellen.

Wir brauchen eine innerislamische, ehrliche, mutige Debatte, die ein Islamverständnis anbietet, das nicht die Radikalisierung begünstigt, sondern diese Menschen dazu bewegt, die Grundwerte anderer Gesellschaften zu akzeptieren, anstatt darin einen Angriff auf ihre Identität zu sehen. Das ist mein Ziel - aber ich bewege mich in einer Minderheit.

Zur Person

Ahmad Mansour

Psychologe und Autor, wurde 1976 als Sohn arabischer Israelis geboren und as Jugendlicher radikalisiert. Sein Psychologie-Studium in Tel Aviv half ihm, sich vom Islamismus zu lösen. 2004 ging er nach Berlin. Mansour ist Programmdirektor der European Foundation for Democracy und Sprecher des Muslimischen Forums Deutschland. 2015 erschien bei S. Fischer sein Buch "Generation Allah. Wieso wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen".