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"Es gibt keinen Garten Eden"

Von Christina Mondolfo

Wissen

Das Tier und das Verhältnis des Menschen zu ihm wird ein immer wichtigeres Thema, das allerdings auch zunehmend polarisiert. Das "Wiener Journal" hat mit dem Tierethiker Herwig Grimm darüber gesprochen.


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Tierethik ist ein ziemlich junges Gebiet, erst vor 40 Jahren legte der australische Philosoph und Bioethiker Peter Singer mit seinem Buch "Animal Liberation" den Grundstein für die bewusste ethische Auseinandersetzung des Menschen mit dem Tier. Doch warum muss es überhaupt einen eigenen Teilbereich der Ethik für Tiere geben, sollte ethisches Verhalten nicht für alle und gegenüber allen Lebewesen gelten?

Der Mensch trägt die ethische Verantwortung für einen freundschaftlichen Umgang mit Tieren (links). Herwig Grimm sieht in der nicht-artgerechten Tierhaltung wie etwa den Kastenständen für Schweine (rechts) ein ethisch-moralisches Problem.
© © © Vstock LLC/Tetra Images/Corbis

Herwig Grimm, Professor für Ethik der Mensch-Tier-Beziehung am Messerli Forschungsinstitut der Veterinärmedizinischen Universität Wien, sieht den Ursprung der ethischen Beschäftigung mit dem Tier schon viel früher: "Für mich ist in Hinsicht auf die Beschäftigung mit Tieren in normativer, moralischer Hinsicht Jeremy Bentham der zentrale Autor. Er schrieb in seinem Werk ‚The Principles of Morals and Legislation‘ den bedeutsamen Satz ‚the question is not wether they can reason nor can they talk but can they suffer‘ (die Frage ist nicht, ob sie vernünftig urteilen oder reden, sondern ob sie leiden können). Das Bedeutsamste daran ist aber, dass Bentham diesen Satz im Jahr 1789 geschrieben hat, in dem bekanntlich die Französische Revolution stattfand. Er hatte erkannt, dass Menschen grundsätzliche Rechte hatten und man niemanden aufgrund seiner Hautfarbe oder seines sozialen Status benachteiligen dürfe. Dieses gesellschaftliche Umdenken, so hoffte er, sollte - zumindest eines Tages - auch die Tiere einschließen. Denn ihre Leidensfähigkeit hielt er für unumstritten: ‚Was die Welt in moralischer Hinsicht bestimmt, sind Freude und Leid.‘ Allein mit diesem Kriterium kann er Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier ausweisen und die Tiere damit in die moralische Gemeinschaft der Schutzbefohlenen hereinholen."

Genau diese Leidensfähigkeit brachte aber zum Beispiel Singer herbe Kritik ein, man warf ihm vor, dass er, indem er Tieren moralischen Schutz angedeihen lasse, Menschenrechte abwerten würde, um ein Gleichgewicht der Werte herzustellen. Grimm: "Baut man nur auf der Leidensfähigkeit auf, muss man sich die Frage stellen, ob Embryos, demente Menschen oder Wachkomatöse auch leiden können. Doch Singer will die Menschen nicht auf ein niedrigeres, sondern die Tiere auf ein höheres Niveau bringen."

Ist der Mensch ein Tier?

Doch was macht den Mensch zum Menschen, was unterscheidet ihn vom Tier - eine Frage, der auch das Philosphicum Lech, das am vergangenen Wochenende stattgefunden hat, nachgegangen ist. Der philosophisch-anthropologischen Grundfrage hat sich bereits Aristoteles gewidmet und den Mensch als "politisches Tier" bezeichnet. Für Peter Singer ist der Mensch im biologischen Sinn ein Tier. Herwig Grimm sieht den Mensch als Tier plus X, wobei X für Eigenschaften wie politisch, moralisch oder selbstbewusst stehen kann. Auch Tiere haben Eigenschaften, wobei ihnen diese vom Mensch zugeschrieben werden, Eigenschaften wie Stärke, Kraft, Mut oder Treue, aber auch Verschlagenheit, Gier oder Gewalt: "Tiere fungieren in der Geschichte als Reflexionsfolie dessen, was wir selbst sind. Sie stehen uns nicht nur emotional nahe, sondern wir machen an ihnen auch unsere Kulturleistungen fest. Und viele Tiere stehen schon längst nicht mehr für das Wilde und Fremde, sie sind vielfach zu Familienmitgliedern geworden oder übernehmen sogar deren Rollen. Doch die Anwendung antropomorpher Konzepte auf Tiere hat auch negative Seiten, denn diese Art von Verantwortung, die man den Tieren da überträgt, kann sie mental überfordern und/oder gesundheitliche Folgen haben. Als Beispiel kann man den Mops nehmen, der durch die immer stärkere Ausprägung des Kindchenschemas Atem- und Augenprobleme hat." Grimm spielt hier auf das Thema Qualzucht an, das besonders bei Hunden immer größere Ausmaße annimmt und bei verantwortungsvollen Züchtern, Hundeliebhabern und Tierschützern auf immer heftigere Gegenwehr stößt.

"Genau da steigt der Tierethiker ein", betont Grimm. "Er ist ja keine Instanz, die entscheidet, was richtig und was falsch ist. Ich als Tierethiker verstehe mich als jemand, der gesellschaftliche Entwicklungsprozesse unterstützt und der moralphilosophisch informiert. Gehe ich wiederum von Bentham aus, dann muss ich mich fragen, ob der Mops leidet. Das tut er zweifellos, aber in der Folge kann ich auch hier nur eine Empfehlung abgeben, ob es dafür eine Rechtfertigung geben kann oder ob das abgestellt gehört."

Wenn der Tierethiker also nicht entscheidet, muss es dann der Einzelne tun? Das bejaht Grimm, ohne zu zögern, weist jedoch darauf hin, dass es natürlich Menschen gibt, die für andere entscheiden wie etwa Politiker. "Die Verantwortung von Tierhaltern oder Konsumenten ist allerdings ein unterschätztes Gut, was sich zum Beispiel deutlich bei der Nutztierhaltung zeigt", stellt er fest. "Während die Landwirtschaft den Konsumenten den Schwarzen Peter zuschiebt, indem sie sagt, dass die Bauern anders produzieren würden, wenn die Konsumenten den Preis dafür bezahlten, wollen Letztere, dass die Bauern endlich ihre Art der Tierhaltung umstellen, dann würde man das natürlich entsprechend finanziell abgelten. Doch wenn man Bürger immer nur als Konsumenten beschreibt, darf man sich nicht wundern, wenn sie irgendwann das für sie Günstigste, das dann oft das Billigste ist, kaufen. Und wenn ihnen auf den Verpackungen die heile Tierwelt verkauft wird, warum sollten sich die Konsumenten gegen dieses Produkt entscheiden?" Grimm sieht die einzige und effektivste Möglichkeit, gegen diese Entwicklung zu arbeiten, in der Stärkung der bürgerschaftlichen, individuellen Verantwortung.

Ist Leiden gerechtfertigt?

Professor für Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, Herwig Grimm.
© © Wiener Zeitung/Moritz Ziegler

Grimm ist zwar überzeugt, dass niemand will, dass Tiere leiden, doch das scheint in krassem Widerspruch zur Realität zu stehen. Massentierhaltung, Pelztierzucht, Stierkämpfe, die grausame Hundefolter in China und Korea und natürlich Tierversuche - die Liste lässt sich beliebig lang fortsetzen. "All das ist definitiv ein moralisches Problem. Aber wir haben es unter den derzeitigen Umständen immer mit Rechtfertigungsstrukturen zu tun. Allerdings leben wir in einer Zeit, in der gesellschaftspolitische Auseinandersetzungsprozesse im Gange sind und rechtfertigende Gründe für tierliches Leid massiv in Frage gestellt werden. Und da ist noch die Tatsache, dass Forschung und Wissenschaft an Status und Glaubwürdigkeit verlieren. Dennoch leben wir in einer wissensbasierten Gesellschaft, die trotz der Tatsache, dass es Sicherheit und Eindeutigkeit nicht gibt, immer noch bis zu einem gewissen Grad an Versuchen und Beweisen festhält. Es gibt aus diesem Dilemma allerdings keinen leichten Ausweg, den Garten Eden gibt es nicht. Wer glaubt, man könnte eine Welt erschaffen, in der es keine moralischen Konflikte mehr gibt, der hat eine falsche Vorstellung dessen, was möglich ist. Außerdem verkennt diese Forderung, dass Menschen und Tiere zusammenleben, da kann es nicht nur um tierliche Interessen gehen." Genau darin besteht für Grimm das Problem, nämlich dass auch viele Tierethiker die menschlichen Interessen nicht ausreichend berücksichtigen und es verabsäumen, die Menschen mit ins Boot zu holen. "Ich halte das für äußerst kurzsichtig, weil dieses Konzept nur einen Wert, nämlich den Tierschutz, berücksichtigt. Wir als Gesellschaft haben aber verschiedene Werte, die wir gleichzeitig in einem bestimmten Verhältnis zueinander realisieren müssen. Tierschutz um jeden Preis wäre also eine Ideologie, etwas, das die Wirklichkeit zugunsten eines Bildes verklären würde."

Das Problem mit der Hierarchie

"Wir leben in einer dynamischen Welt mit Wesen, die sich weiterentwickeln, da von einem Konzept der Stagnation auszugehen, ist eine Illusion", so Grimm. Wenn die Entwicklung allerdings in eine falsche oder ungerechte Richtung geht, weil die Menschen ihre moralische Verantwortung nicht wahrnehmen, müssen Gesetze zumindest Mindeststandards sichern. Doch auch da hätte Grimm lieber Anreize statt Bestrafung, denn Druck erzeuge immer Gegendruck. Wenn man jedoch Wissen vermittle und dem Mensch Werkzeuge zur Umsetzung seines Wissens in die Hand gebe, dann brauche man keine oder zumindest weniger Kontrolle.

Allerdings sieht Herwig Grimm auch im Tierschutz und den Tierschutzgesetzen ein bestimmtes Problem, nämlich das der Hierarchie: "Es geht darum, jedem Wesen gegenüber gerecht zu werden. In der philosophischen Tradition stand jedoch stets der Mensch in der Hierarchie ganz oben, also musste man einzig ihm gegenüber gerecht werden. Erst Charles Darwin räumte mit der Vorstellung der auf etwas ausgerichteten Natur auf - sie sei nicht hierarchisch und damit vertikal geordnet, sondern horizontal. Im Tierschutz und auch in der Tierethik ist aber immer noch dieser Hierarchiegedanke zu finden, denn warum schützen wir Schimpansen mehr als Schnecken? Wir haben zwar den Speziezismus mit dem Gedanken, dass nur der Mensch schützenswert ist, überwunden, aber davon, den Anthropozentrismus überwunden zu haben, sind wir noch weit entfernt. Und wäre ich gerecht gegenüber allen Lebewesen, bräuchte ich überhaupt keine Tierrechte. Es genügte die Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, um zu erkennen, was richtig und wichtig für dieses ist."

Folgt man dem Post-Humanismus, so ist es dessen Ziel, den Mensch in der Tierethik zu überwinden, doch wir sind immer noch im "Menschen-Konzept" gefangen: Wir schützen Tiere, die dem Menschen ähnlich sind oder ihm sozial nahestehen - doch was ist mit den anderen? Wiederum stellen wir eine Hierarchie auf, genau genommen zwei: eine moralische und eine soziale. Letztere bevorzugt Tiere, die in unserem unmittelbaren Umfeld angesiedelt sind.

Grimm stellt auch die Frage nach dem Tier, an dem wir unsere moralische Verantwortung festmachen können. "Das wird über die Ethologie bestimmt, die es als biologischen Organismus definiert." Für den Tierethik-Professor ist das aber nur eine Möglichkeit, das Tier an sich zu beschreiben: "Ich kann ein Tier als Teil der Gesellschaft sehen, als historischen Akteur - man denke nur an die Pferde, die im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden. Wäre er ohne sie möglich gewesen?" Er sieht den Begriff "Tier" als Appell, sich mit diesem Wesen auseinanderzusetzen: "Man muss sein Sensorium für dieses Gegenüber schulen, denn es hat mir viel zu sagen."

Dürfen wir Tiere töten?

In der Forderung nach dem Recht auf Leben und Freiheit, wie sie Peter Singer stellt, sieht Grimm allerdings ein Problem, denn wo macht es Sinn, von Freiheit von Tieren zu sprechen? Im humanistischen Denken wird Autonomie nur den Menschen zugesprochen, da diese im strengen Sinn von begründeter Selbstgesetzgebung aus ethischer Sicht zu viel von Tieren verlangt wäre. Doch heißt das Recht auf Leben, dass der Mensch keine Tiere töten darf? Das geht für Grimm zu weit, denn ethische, moralische Verantwortung einem Tier gegenüber kann auch heißen, dass dem Leid eines Tieres ein Ende gesetzt werden muss. "Da kommt natürlich die Euthanasiedebatte hinein. Lebensschutz und Leidvermeidung sind zwei Prinzipien der Tierethik, doch manchmal steht die Leidvermeidung eben über dem Lebensschutz. Diese Problematik findet sich schon bei Albert Schweitzer, der einst in Afrika einen Seeadler von einem Markthändler freikaufte, doch um ihn zu füttern, musste er einen Fisch töten. Er tötete also ein Tier für ein anderes, ein Faktum, das wir ja auch heute in der Tierfutterindustrie haben. Aber unsere Perspektive auf das Tier ändert sich, die Mensch-Tier-Beziehung ändert sich - zum Glück."

Viele Bereiche im menschlich-tierischen Zusammenleben auf diesem Planeten hat Grimm bereits als moralisches Problem definiert, doch wie sieht es mit Tiergärten aus? "Auch hier haben wir wieder die Sache mit der Rechtfertigung - und als solche müssen Artenschutz und Pädagogik dienen, um Tiere in nicht artgerechter Weise in Zoos zu halten. Hier sollte man sich grundsätzlich einer neuen Auseinandersetzung stellen, welche Tiere tatsächlich in Zoos gezeigt werden sollten beziehungsweise dürften. Denn neben dem Artenschutz und der Pädagogik gibt es natürlich auch noch ökonomische Gründe - und genau deshalb werden vielerorts sogenannte Blockbustertiere, also Löwen, Tiger, Elefanten oder Eisbären in Zoos gehalten. Doch speziell diese Tiere sind großen Einschränkungen in Bezug auf ihre ursprüngliche Lebensweise unterworfen. Und deshalb glaube ich, dass es gute Gründe gibt, manche Tiere nicht mehr in Zoos zu halten."

Dass sich das Philosophicum Lech dem Thema Mensch und Tier gewidmet hat, ist für Grimm ein großer, wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Und er selbst sieht seine Verantwortung, das Verständnis der Menschen für die Tiere und den richtigen Umgang mit ihnen zu wecken und zu vertiefen: "Es ist nicht meine Aufgabe, Tiere zu schützen, aber ich kann das Verständnis und das Wissen steigern. Und da werde ich nicht lockerlassen!"

Buchtipps zu TierethikTipp 1: Warum mögen wir manche Tiere mehr als andere, warum finden wir Kühe herzig, haben aber nichts dagegen, sie zu essen? Wieso bewundern wir die fröhlichen Sprünge frei lebender Delfine, sperren sie aber zwecks fragwürdiger Delfintherapien in enge Becken? Wie ist das mit dem millionenfach akzeptierten Tod von Labormäusen und -ratten? Ist Tierliebe angeboren und ist ein Menschenleben immer mehr wert als ein Tierleben? Der Anthrozoologe Hal Herzog geht in "Wir streicheln und wir essen sie" auf sachkundige und unbeschönigende Art auf all die ethisch-moralischen Fragen der Mensch-Tier-Beziehung ein, ohne grundsätzlich zu verurteilen - er will aufzeigen und zum Nachdenken anregen. Dass sich in der Mensch-Tier-Beziehung allerdings vieles ändern muss, davon ist auch er überzeugt. Ein intensives Plädoyer, das man erst aus der Hand legt, wenn man es zu Ende gelesen hat. Sehr empfehlenswert!

Hal Herzog: "Wir streicheln und wir essen sie", Hanser Verlag, 20,50 Euro

Tipp 2: Seit 30 Jahren kämpft der Schweizer Antoine F. Goetschel für die Rechte der Tiere, und dabei gibt es nichts, was ihm noch nicht untergekommen wäre. Er kennt die brennenden Fragen des Tierschutzes und er versucht, für jede eine Antwort zu finden. In seinem neuen Buch "Tiere klagen an" bezieht er zu Themen wie "Haben Tiere eine Würde" oder "Was sagt der Umgang mit Tieren über uns als Menschen aus?" Stellung, aber auch zu Tierversuchen und Massentierhaltung. Es macht einen unglaublich traurig, dieses Buch zu lesen, denn es schürt keine Hoffnung auf eine rasche Verbesserung oder Änderung. Trotzdem - die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt und es gibt doch einiges, was jeder von uns tun kann... Sehr empfehlenswert!

Antoine F. Goetschel: "Tiere klagen an", Scherz Verlag, 20,60 Euro

Artikel erschienen am 28. September 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 4-9