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Nordirland muss sich Sorgen machen, sagt Sinn-Féin-Politiker John O’Dowd. Mit dem EU-Austritt droht ein wirtschaftliches Desaster - und der Friedensprozess ist gefährdet.
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Belfast. John O’Dowds Partei Sinn Féin, früher der politische Arm der Irish Republican Army (IRA), trat im Brexit-Wahlkampf für einen Verbleib Großbritanniens in der EU ein. Seit dem Karfreitagsabkommen 1998 teilen sich die Unionisten der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) und die republikanischen Nationalisten der katholischen Sinn Féin die Macht im nordirischen Stormont.
"Wiener Zeitung": Nordirlands stellvertretender Erster Minister Martin McGuinness will einen Sonderstatus für Nordirland in der EU. Wie soll dieser aussehen?John O’Dowd: Wir wollen in der EU bleiben. In Nordirland haben 55 Prozent für den Verbleib gestimmt. Dieser Volkswunsch sollte respektiert werden. Wenn Martin vom Sonderstatus spricht, dann meint er, dass wir Bürger der EU bleiben wollen - mit allen Rechten. Es ist klar, dass es hierfür Verhandlungen braucht. Der ganze Brexit ist ein weißes Blatt - kein Staat hat je die EU verlassen. Wir befinden uns hier in einem Land, in dem Verhandlungen historisch eine große Rolle spielten.
Bedeutet der Sonderstatus eine Wiedervereinigung mit der Republik?
Aus einer republikanischen Perspektive ist die Wiedervereinigung immer das Ziel. Aktuell geht es aber darum, als Teil Großbritanniens in der EU zu bleiben.
Ihre Partei Sinn Féin regiert da Land gemeinsam mit der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP). Was sagt die DUP dazu? Immerhin war sie als London-treue Partei für den Brexit.
Die DUP hat eine andere Position als wir, wir kommen ja auch aus gänzlich unterschiedlichen Richtungen, das macht auch die einzigartige Teilung der Macht aus, die wir auf diesem Teil der Insel haben. Das müssen wir akzeptieren, denn wir werden die DUP nicht dazu bewegen können, in der EU bleiben zu wollen. Einige DUP-Politiker sprechen zwar auch von einem Sonderstatus, meinen aber, dass die sehr speziellen Bedingungen in diesem Teil der Insel bei den Verhandlungen zwischen Brüssel und London in Betracht gezogen werden. Wir versuchen, wie so oft, uns gegenseitig zu überzeugen.
Glauben Sie, dass ein Kompromiss möglich ist?
Es ist ja nicht die DUP, die uns dieses Problem bereitet hat - das waren Zerwürfnisse innerhalb der konservativen Tories! Die Menschen aus England und Wales haben für den EU-Austritt gestimmt, nun müssen wir mit den Konsequenzen leben. Die Frage, wie es nun mit dem nordirischen Friedensprozess weitergeht, ob es eine Grenze zu Irland gibt und wie es dann der Republik geht, war sicher nicht Thema der Brexit-Debatte. London versteht nicht, was hier passiert.
Können Sie mit Ihrem Koalitionspartner zusammenarbeiten, um sich Gehör zu verschaffen?
Es gibt sicher auf beiden Seiten den Willen, den Friedensprozess voranzutreiben. Niemand will zurück in den Konflikt. Durch Nachlässigkeit könnten die Probleme aber wieder verschärft werden. Wir müssen uns Sorgen machen! Die britische Regierung ist mit ihren eigenen internen Tumulten beschäftigt. Was hier bei uns geschieht, ist nicht die Hauptsorge Londons. Die Selbstgefälligkeit kommt aus Westminister und der Downing Street.
Was sind Ihre Hauptsorgen in Zusammenhang mit einem Brexit?
Unser Friedensprozess ist einzigartig und fragil, er dauert immer noch an. Wir sollten den Frieden hier nicht als selbstverständlich hinnehmen. Das Karfreitagsabkommen von 1998 funktioniert auch deshalb so gut, weil wir Teil der Europäischen Union sind. Die Grenze zur Republik Irland ist verschwunden - dank der Mitgliedschaft in der EU und dank der gemeinsamen Teilnahme am Binnenmarkt. All das ändert sich nun.
Denken Sie, dass die EU sich dessen bewusst ist?
Einige der Hauptakteure schon, aber viele EU-Mitgliedstaaten haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Wir müssen viel debattieren, es liegt einiges an Lobbying vor uns. Auch die irische Regierung ist hier in einer einzigartigen Position. Es liegt viel Arbeit vor ihr.
37 Prozent der nordirischen Exporte gehen in die Republik. Geht der Zugang zum Binnenmarkt verloren, wäre das ein wirtschaftliches Desaster.
Das stimmt. Doch egal, wie aussichtslos die Lage ist, die Menschen können sich nicht vorstellen, was der Brexit für Auswirkungen auf ihr Leben hat. Im kommenden Jahr werden die Lebensmittel teurer. Der Preis für Heizöl ist in diesem Monat bereits um 15 Prozent gestiegen. Erst, wenn die Menschen das spüren, werden sie sich fragen, was der Brexit für sie bedeutet. Unsere kleine Wirtschaft kann den EU-Austritt nicht verkraften. Es gibt nichts Gutes am Brexit, egal, wie lange man danach sucht.
Wie wahrscheinlich ist es, dass die harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik zurückkehrt?
Wir müssen das mit 26 anderen Staaten ausverhandeln. Eine große Rolle spielt auch, ob Großbritannien Teil des Binnenmarktes bleibt. Es wird wohl eine Art von Kontrolle geben müssen. Die Gemeinden an der Grenze haben zur Zeit des Nordirlandkonflikts am meisten gelitten. Der Gedanke nach einer harten Grenze füttert die Angst vor Konflikten.
Manche sagen, dass der Brexit viele Nordiren zurück in ihre alten Identitäten stoßen könnte. Heute ist es möglich, sich ein bisschen irisch, ein bisschen britisch und ein bisschen nordirisch zu fühlen. Jeder Bürger hat Anspruch auf einen Pass aus beiden Ländern. Wenn der Draht zu Irland bei einem Brexit dünner wird, gerät dies dann in Gefahr?Ich habe einen irischen Pass und bin damit auch europäischer Bürger. Wenn wir die EU verlassen, wie werden wir dann damit umgehen? Wir leben hier unter britischer Kontrolle. Wie werden bei einem Brexit meine Rechte als europäischer Bürger geschützt? Das Thema Identität spielt hier eine große Rolle. Ich sehe mich als Ire und bin stolz darauf. Andere sehen sich als nordirisch oder britisch. Wir sind europäische Bürger, das ist unser gemeinsamer Nenner. Seit dem Brexit-Votum gibt es in Nordirland einen Ansturm auf irische Pässe, vor allem durch Unionisten. Das zeigt: Sie sehen sich nicht nur als Briten, sondern auch als Europäer.
Besteht die Gefahr, dass bewaffnete IRA-Splittergruppen mit dem Brexit neue Kampagnen starten?
Bewaffnete Dissidenten suchen immer nach einer Rechtfertigung für ihre Kampagnen. Seltsamerweise waren einige von ihnen für den Brexit. Für sie hat die EU die britische Herrschaft in Irland untermauert. Doch völlig egal, welche Rechtfertigungen die bewaffneten Dissidenten für ihre Kampagnen heranziehen, sie werden nicht gewinnen. Es gibt für Irland keine militärische Lösung. Das Karfreitagsabkommen hat allen eine würdevolle Zukunft bereitet. Militarismus nach dem Karfreitagsabkommen - für junge Menschen bedeutet das nichts anderes als Gefängnis oder Friedhof.
Zurück zum angestrebten Sonderstatus: Könnte Nordirland sozusagen das Scharnier werden zwischen Brüssel und London?
Es geht uns dabei nicht um die Interessen Londons, sondern um unsere eigenen. Es gibt Akademiker, Politiker - und ich zähle mich zu diesen -, die glauben dass Nordirland in der EU bleiben könnte. Wie die Stimmrechte dann aussehen würden und wie wir im Rat vertreten wären, das bliebe natürlich noch zu beantworten. Eine Idee ist, dass Nordirland und Schottland in der EU bleiben und wir uns einen Kommissar-Posten teilen. Aber wie gesagt, das ist alles völlig neu, etwas noch nie Dagewesenes.
Haben Sie schon mit Brüssel über diese Idee gesprochen?
Nein, Brüssel will nicht verhandeln oder diskutieren, bevor Artikel 50 ausgelöst ist (der den formellen Austritt Großbritanniens aus der EU einleitet, Anm.). Als Martin McGuinness vergangene Woche in Brüssel war, hat die Kommission keine offizielle Position eingenommen. Wir haben aber klar gemacht, dass wir etwas anderes wollen als einen Brexit.
Sehen Sie den Brexit als Chance, ein Referendum über die Wiedervereinigung mit Nordirland abzuhalten, wie es das Karfreitagsabkommen vorsieht?
Der Brexit macht deutlich, wieso wir ein Referendum über die Wiedervereinigung abhalten sollten. Es geht um Demokratie. Ich sitze hier als irischer Republikaner, als einer von den 55 Prozent, die in Nordirland gegen den Brexit gestimmt haben. Die Wähler in England und Wales haben uns alle aus der EU geholt. Was soll daran demokratisch sein? Es ist eine Zumutung für Irland und die Menschen hier. Die Regierungen in Dublin und in London haben die Pflicht, uns die Option zu geben, über ein vereintes Irland abzustimmen. Es ist ein völlig neues Szenario. Brexit ist der wichtigste Moment in Irland seit der Teilung des Landes 1921. Niemand weiß, wie es weitergeht. Die demokratischen Interessen der Menschen in Irland werden von England und Wales diktiert. Es gibt keine Demokratie.
Wird es zum Brexit kommen?
Wir als Politiker müssen damit rechnen, aber es kann alles passieren.
Zur Person
John O’Dowd, geboren 1967, ist Sinn-Féin-Abgeordneter in der Northern Ireland Assembly, dem Parlament für die Provinz Nordirland. O’Dowd war lange Zeit Erziehungsminister und übernahm 2014 für einige Wochen den Posten des stellvertretenden Ersten Premiers in der nordirischen Regierung in Stormont. Sein politischer Schlüsselmoment waren die Hungerstreiks 1981.