Der irische Wirtschaftswissenschafter John FitzGerald hält einen No-Deal-Brexit mittlerweile für wahrscheinlich. Entscheidet sich Westminster doch für einen Verbleib in der Zollunion, könnte May diesen kaum mit der EU verhandeln.
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"Wiener Zeitung": Die Abgeordneten in Westminster finden keine Mehrheit für eine Alternative zum Brexit-Deal der Premierministerin. Den Verbleib in der Zollunion haben sie am Montag erneut knapp abgelehnt. Gibt es noch Hoffnung für eine solch enge Anbindung des Vereinigten Königreichs an die EU?
John FitzGerald: Es gibt noch eine verzweifelte Hoffnung. Die Tory-Minister mussten sich bisher enthalten. Möglich ist, dass sie sich beim nächsten Mal widersetzen, um einen EU-Austritt ohne Abkommen zu verhindern. Außerdem hat auch die schottische SNP nicht für eine Zollunion gestimmt, sondern ausschließlich für den Vorschlag eines zweiten Referendums. Stehen diese Abgeordneten vor der Entscheidung eines No-Deal-Brexit oder einer Zollunion, dann würden sie Letzteres wählen.
Am Mittwoch könnte noch einmal abgestimmt werden: Theresa Mays Deal oder der Verbleib in der Zollunion. Könnte es dann klappen?
Wenn das die Optionen wären, ja. Doch selbst, wenn sich das Parlament für die Zollunion entscheidet, wäre das nur ein erster Schritt. Die Hälfte von Mays Kabinett will lieber einen No-Deal-Brexit. Die Befürworter eines Verbleibs in der Zollunion sind hauptsächlich Oppositionelle, da sind nur einige Tory-Rebellen dabei. Es wäre äußerst schwierig, weiterzumachen, wenn die Regierung das Verhandlungsmandat hat, aber die Opposition bestimmt, worüber verhandelt wird. Geht Mays Deal auch beim x-ten Mal nicht durch und übernimmt das Parlament die Kontrolle mit der Forderung nach einer Zollunion, dann muss May in Brüssel um eine längere Verschiebung des Brexit ansuchen.
Und was dann? May ist politisch am Ende.
Es bräuchte dann wohl Neuwahlen, denn die Regierung kann nichts verhandeln, an das sie nicht glaubt. Der konservative Ex-Premier John Major hat die Idee einer parteiübergreifenden Regierung ins Spiel gebracht. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Labour-Chef Jeremy Corbyn dem zustimmt, wenn er nicht selbst Premier wird. Die Frage ist nun, wie die Regierung entscheidet. Will sie keine Neuwahlen, dann könnte das Parlament sich für den Verbleib in der Zollunion aussprechen. May würde es aber schwerfallen, das ohne Neuwahlen zu verhandeln.
Neuwahlen garantieren nicht, dass sich etwas ändert. Was, wenn die Tories wieder gewinnen?
Die Alternative ist ein Referendum mit der Wahl zwischen einer Zollunion und dem Verbleib in der EU. Das gäbe Krieg. Am wahrscheinlichsten ist daher ein No-Deal-Brexit oder ein Verbleib in der Zollunion und Neuwahlen zu einem späteren Zeitpunkt. Aus EU-Perspektive ist es sehr schwer, jetzt einer Verschiebung des Austritts zuzustimmen. Es gibt keine Garantie, dass diese Zeit genutzt würde, um eine Lösung zu finden. Die gibt es nur, wenn sich die britische Politik in ihren Grundfesten ändert.
Bei einem No-Deal-Brexit müsste es Grenzkontrollen in Irland geben. Die Grenze ist 500 Kilometer lang, wie soll das funktionieren?
Es gibt Pläne, die Grenze mit Soldaten zu schützen, auch die Polizei im Norden und Süden ist vorbereitet. Grenzkontrollen kann man zwar auch abseits der Grenze machen - in Form von Stichproben. Das langfristige Problem von Schmuggel und organisierter Kriminalität ist damit aber nicht gelöst. Zudem haben etliche Bauern ihre Kühe auf beiden Seiten stehen, die Menschen leben im wahrsten Sinn des Wortes auf der Grenze. Zwischen Nordirland und der Republik gibt es mehr Grenzübergänge als zwischen der EU und ihren östlichen Nachbarn. Diese Grenze ist nicht überwachbar. Das hat noch nie funktioniert.
Wie wird Großbritannien einen No-Deal-Brexit überleben? London hat bisher nur eine Handvoll Handelsabkommen abgeschlossen.
Am Anfang wird es grobe Probleme geben, für das Vereinigte Königreich sind die Kosten eines No-Deal-Brexit erheblich. Irland wird sich schneller erholen, wir müssen auch keine Handelsabkommen abschließen. Dafür wird London Jahre brauchen.
Wird es zu Nahrungsmittel- und Medikamentenknappheit kommen? Worauf müssen sich die Briten einstellen?
Das kommt ganz auf Großbritannien an. London kann durchaus entscheiden, in Dover alles durchzuwinken, also nichts zu kontrollieren und keine Zölle einzuheben. Es wird wohl eher nach und nach Kontrollen einführen.
Und anders herum? Die EU muss doch Zölle auf britische Produkte einheben, oder?
Die EU kann von Tag eins Zölle einheben. Ich nehme aber an, dass es auch hier de facto eine Art Übergangsphase von einigen Monaten geben wird.
Seit dem Brexit ist wieder die Rede von einer Wiedervereinigung Irlands. Halten Sie dieses Szenario in den kommenden 20 Jahren für wahrscheinlich?
Ich werde das nicht mehr erleben. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in der Republik Irland die Idee unterstützt. Vor einem Referendum in Irland über eine Wiedervereinigung müsste der Öffentlichkeit allerdings klargemacht werden, was das bedeutet.
Sie meinen die Abhängigkeit der britischen Provinz von den jährlich rund zehn Milliarden Pfund an Subventionen aus London? Könnte Dublin sich das überhaupt leisten?
Ich bin überzeugt, dass Irland, wenn es Nordirland unterstützen müsste, dauerhaft 15 bis 20 Prozent an Lebensstandard einbüßen würde. Würde der Süden den Norden nicht finanziell unterstützen, würde die Wirtschaft in Nordirland katastrophal einbrechen, die Arbeitslosigkeit könnte bis zu 30 Prozent erreichen. Macht man den Menschen das klar, würden sie auf diesem Teil der Insel dagegen stimmen. Auch die Regierung in Dublin will kein Referendum. Sie weiß um die Risiken: Was, wenn Nordirland dafür stimmt und die Republik dagegen? Das wäre ein komplettes Desaster. Der Norden kann sich dem Süden ja nicht aufzwingen. Dublin ist sehr nervös deswegen, die Regierung weiß, wie unglaublich teuer das wäre. Es ist jetzt nicht die Zeit für eine Wiedervereinigung. Niemand will darüber sprechen, bis der Brexit und seine Nachwehen überstanden sind.
In Schottland ist die Lage anders. Was, wenn Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon ihre Karten geschickt ausspielt?
Schottland ist sehr interessant. Mit Ausnahme vom Großraum London wächst Schottland schneller als der Rest des Vereinigten Königreichs. Es ist ein Erfolgsbeispiel, Schottland hat ein gewisses Kapital und ein funktionierendes Schulsystem. Die Schotten würden unter einem harten Brexit leiden, das täten sie aber auch, wenn sie nach der Unabhängigkeit wieder Zölle zwischen Schottland und England einführen müssten. Es würde dann einige Zeit brauchen, um wieder EU-Mitglied zu werden. Allerdings kann ich mir bei allen Problemen, die der Brexit mit sich bringt, schon vorstellen, dass die Schotten diese schwierige Phase auf sich nehmen würden, um später wieder eine Zukunft in der EU zu haben. Immerhin haben sie mit einer Mehrheit von 60 Prozent gegen den Brexit gestimmt. Mittlerweile wollen 70 Prozent der Schotten in der EU bleiben. Wirtschaftlich kann ich die Unabhängigkeit nicht empfehlen, aber ich verstehe, wenn sie diesen Weg gehen wollen.
Viele Ihrer Prognosen haben bisher gestimmt. Sie waren einer der wenigen, die den Ausgang des Referendums vom Sommer 2016 vorhergesagt hat. Für wie wahrscheinlich halten Sie einen No-Deal-Brexit?
Der wird immer wahrscheinlicher, ich schätze das mittlerweile auf mehr als 50 Prozent. Ich hatte Hoffnung, dass die Abgeordneten in Westminster doch noch zu einer Lösung finden, aber jetzt bleibt kaum Zeit. In den kommenden zwei Wochen können weitere Fehler passieren, zudem könnte Brüssel endgültig die Geduld mit London verlieren. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit eines No-Deal-Brexit. Dublin will das natürlich nicht, wir würden den Briten am liebsten für immer Zeit lassen für ihre internen Streitereien. Aber andere Regierungen haben die Schnauze voll. Zum Problem werden auch die bevorstehenden EU-Wahlen - ich sehe schon, wie Nigel Farage im EU-Parlament mit neuen Alliierten Freudensprünge macht. Die Iren würden diesen Preis bezahlen, um einen No-Deal Brexit zu verhindern. Bei den anderen Mitgliedstaaten bin ich mir da nicht so sicher.
Wissen<p>Das Vereinigte Königreich ist einem ungeregelten Brexit am 12. April noch einen Schritt näher gerückt. Am Montagabend konnte sich das Unterhaus erneut auf keine Alternative zum Austrittsabkommen von Theresa May einigen. Möglicherweise legt die Premierministerin den Abgeordneten ihren Brexit-Deal am Donnerstag ein viertel Mal vor. Geplant war zudem, dass das Unterhaus am Mittwoch erneut über die Alternativen dazu abstimmt. Zudem will eine überparteiliche Gruppe von Parlamentariern einen EU-Austritt ohne Abkommen per Gesetz verhindern - und May dazu zwingen, in Brüssel um eine Verschiebung anzusuchen. Ob Brüssel dem zustimmen würde, ist allerdings fraglich. Immerhin müssten die Briten dann an den EU-Wahlen Ende Mai teilnehmen.