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Es gilt, mehr Demokratie zu wagen

Von Manfred Moser

Politik

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Die Sozialdemokratie gibt sich wiederum in einem 20. Jahresschritt ein neues Parteiprogramm. 1958, 1978 und jetzt 1998 · egal ob zufällig oder nicht · der Schritt ist notwendig. Dies in mehrfacher

Hinsicht. Zuviel hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten in und um uns verändert, als daß sich die Frage nach den Auswirkungen auf die Programmatik vermeiden ließe. Die alten und neuen

Gegensatzpaare "links" und "rechts" oder "vorwärts" und "rückwärts" sind für mich in dieser Diskussion wenig hilfreich. Die Welt ist sozio-ökonomisch vernetzter und komplexer denn je. Auch andere

Gegensatzpaare haben uns zu beschäftigen. Ich nenne und beschäftige mich mit dreien hievon:

1. Arbeitnehmer versus Unternehmerbegriff

Die aktuelle Diskussion zeigt deutlich, daß die bisherigen Schablonen nicht mehr stimmen. Den klassischen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff, der von gleichgelagerten Rahmenbedingungen und

Interessen ausgeht, gibt es nicht mehr. Dasselbe gilt vice versa für den Bereich der Unternehmer und Selbständigen. Diese Realität gilt nicht nur für den Häupl'schen Extremvergleich des ausgebeuteten

Generaldirektors, dem ein Heer von Dienstnehmern untersteht und dem kapitalistischen Schuster, der allein in seinem Unternehmen tätig ist.

Vergleichbare Interessen und Lebensumstände orientieren sich nicht am formalen Unternehmer- oder Arbeitnehmerbegriff.

Auch die Rolle und das Verständnis der Bauern unter den geänderten Rahmenbedingungen in der Landwirtschaft erscheint mir durchaus einer Diskussion würdig. Ich halte es zudem für keinen Zufall, daß in

Österreich der Drang zum öffentlichen Sektor besonders groß, der Zug zur Selbständigkeit besonders unterentwickelt ist. Im Sinne einer Modernisierung unserer Wirtschaft und Gesellschaft, verbunden

auch mit einem notwendigen Bürokratieabbau, ist eine Korrektur erforderlich und wünschenswert.

2. Partei und

Persönlichkeit

Die bisherigen Diskussionen um Vorwahlen, Direktwahlen und persönlichkeitsorientierte Wahlrechte zeigen insgesamt ein deutliches Dilemma. Die Kluft geht weit über persönliche Betroffenheiten der

Diskutanten, die natürlich auch eine Rolle spielen, hinaus. Jedenfalls sollten Theorie und Praxis keine unabhängige Existenz von einander führen.

Die Rolle der Persönlichkeit in der heutigen politischen Performance läßt sich nicht bestreiten. Es mag zwar mancherorts beklagt werden, eine relevante wirksame Gegenbewegung ist für mich nicht

einmal im Ansatz erkennbar.

Jene, die die Bürgermeisterdirektwahl gewagt haben, konnten demokratiepolitische Erfolge erzielen. Größerer Akzeptanz durch steigende Wahlbeteiligung, Transparenz durch Stimmensplitting (Trennung von

Bürgermeister-und Gemeinderatswahl) sowie Verhinderung politischer Tauschhändel können als Positiva gewertet werden.

Detail am Rande: Die Zahl selbstherrlicher Dorfpaschas ist nach meiner Erfahrung nicht größer geworden. Eher ist das Gegenteil der Fall. Direkte Wahl und Verantwortung kann auch mehr demokratische

Demut erzeugen. Frage: Ist es wirklich der Weisheit letzter Schluß, wenn Wahlen zu den Landesparlamenten regelmäßig zu Landeshauptmannwahlen umfunktioniert werden? Die zu wählenden Abgeordneten

kommen in der Weltauseinandersetzung praktisch nicht vor.

Fazit: Ich plädiere abseits von dogmatischen Standpunkten für eine offene und entkrampfte Diskussion zum Thema Rolle der Persönlichkeit in der Politik, die den Vorteil der Annäherung an die Realität

aufweisen sollte.

3. Modernität und

soziale Verantwortung

In diesem wohl nicht nur scheinbaren Gegensatz liegt für mich die wichtigste Herausforderung für die Sozialdemokratie von heute und morgen. An der Bewältigung und Überwindung dieses Gegensatzes

wird sich die Zukunft des Wohlfahrtsstaates erweisen. Auch der Gegensatz zwischen geschützt-öffentlichen Bereichen und dem ungeschützten Bereich unserer Wirtschaft spielt hier eine Rolle. Bekennt man

sich zu den nach wie vor gültigen Grundwerten der Sozialdemokratie, namentlich der Gerechtigkeit und Solidarität, so muß und kann wohl ein Auseinanderdriften dieser Bereiche nicht akzeptiert werden.

Zusammenfassend halte ich folgendes für wünschenswert: Zunächst eine spannende, kontroversielle und inhaltsreiche Debatte zum und über das neue Programm. Diese sollte mutig von einer sich öffnenden

Partei geführt werden. Es gilt mehr Demokratie zu wagen und neben aller Modernität die soziale Kompetenz und Verantwortung weiterzuentwickeln und neu zu definieren.

*

Die Serie wird im Dienstagblatt der "Wiener Zeitung" fortgesetzt.