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"Es hat etwas von einer Sekte"

Von Rebecca Hillauer

Reflexionen

Der Sozialwissenschafter und Journalist Joris Luyendijk hat zwei Jahre lang mit Bankern Interviews geführt, die auch als Buch vorliegen. Nun spricht er selbst über seine Erfahrungen und Erkenntnisse bei dieser Recherche.


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"Wiener Zeitung": Wenn ich Ihnen erzählen würde, mein Bruder sei Banker in Zürich - was könnten Sie mir aufgrund Ihrer Recherchen über seinen Charakter sagen?Joris Luyendijk: Ich würde sagen, dass Ihr Bruder ein sehr ehrgeiziger Mensch ist und äußerst hart arbeitet. Und dass er sehr verärgert wäre, wenn Sie ihm unterstellen würden, dass er das aus Habgier tut. Diese Annahme ist die am weitesten verbreitete Fehleinschätzung über Banker.

Was treibt diese "Spezies" dann an?

Banker sind in jedem Fall extrem wettbewerbsorientiert - wie ich übrigens auch. Ich wünsche mir natürlich, dass viele Menschen in Österreich mein Buch kaufen werden. Deswegen wird mich aber niemand einen "habgierigen Autor" nennen.

In Ihrem Buch vergleichen Sie Banker mit Leistungssportlern.

Nur dass ihre Trophäe nicht ein Pokal ist, sondern ein Bonus. Er markiert ihre Stufe auf der internen Hierarchieleiter. Und da das Geschäft von Bankern nun einmal Geld ist, konkurrieren sie miteinander um Geld. Das ist in unserem zweiten Jahrtausend der Inbegriff von Männlichkeit.

Sie haben Arabistik und Politik studiert, und gelten als der bisher jüngste Korrespondent, der je aus dem Nahen Osten berichtet hat. Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen dem Männerbild dieser Region und den Bankern, über die Sie in Europa recherchiert haben?

Ja, die sehe ich tatsächlich. Diese südländischen Macho-Männer und der Typ "nordischer" Banker versuchen beide, völlig unverwundbar zu wirken. So nach dem Motto: "Ich habe diese Business-Card der Deutschen Bank, ich trage diesen unglaublich teuren Anzug, ich verdiene unwahrscheinlich viel Geld - also muss ich auch als Mensch ein Erfolg sein."

Gilt das ebenso für die Frauen unter den Bankern?

So wie es zwei Typen von Männern gibt - die "harten Kerle" und die "Weicheier" -, so gibt es auch zwei Typen von Frauen. Die einen sind leistungsorientiert und haben diesen auf ihre Karriere beschränkten Blick auf das Leben. Und die anderen sind die "weiblichen" Frauen und "femininen" Männer - und die ziehen in diesem System den Kürzeren. Eine ganze Reihe meiner männlichen Interviewpartner erzählten mir, dass ihnen im Rahmen ihrer Leistungsbewertung gesagt worden sei: "Du musst mehr wie eine Ratte werden - aggressiver, bissiger." Sie sollten sich also im klassischen Sinn "männlicher" verhalten.

Der Londoner Finanzdistrikt, die "City", wo Sie im Auftrag des "Guardian" recherchierten, gilt als das Finanzzentrum Europas - mit einem strikten Schweigekodex. Unter Wahrung ihrer Anonymität offenbarten sich Ihnen dennoch rund 200 Banker aus den unterschiedlichsten Bereichen.

Fast alle sagten, sie hätten den Job anfangs nur für ein paar Jahre machen wollen, um dann ihr eigenes Geschäft zu eröffnen, um Künstler zu werden oder Dokumentarfilmer. Etwas Idealistisches also. Aber dann, nach einigen Jahren, fühlen sie sich wie unter einer Käseglocke gefangen und finden den Absprung nicht. Denn wenn man sechs oder acht Jahre lang jede Woche 80 Stunden arbeitet, verliert man - mit jeder Verabredung, die man nicht einhält - nach und nach fast alle seine Freunde außerhalb der Finanzwelt. Dann hat man zwar Hunderttausende von Pfund, Euro oder Dollar auf dem Konto. Das trennt einen aber vom Rest der Gesellschaft - zunächst, weil man zu wenig Freizeit hat, und später, weil man so viel mehr Geld besitzt als andere.

Trifft das auch auf Banker in Zürich, Frankfurt oder Wien zu, wo Sie ebenfalls Interviews geführt haben?

Im Prinzip schon. Es gibt aber auch einige ganz markante Unterschiede. Der wesentlichste ist wohl: Während in Frankfurt, Zürich und Wien Kündigungsfristen gesetzlich geregelt sind, können Banker in der Londoner "City" von einer Sekunde auf die andere gefeuert werden.

Ihre Interviewpartner sprechen in diesem Zusammenhang von "Exekutionen".

In einem solchen Klima der Angst ist es nicht verwunderlich, dass Leute bereit sind, im wahrsten Sinn "rund um die Uhr" zu arbeiten. Jungen Bankern wird häufig sogar untersagt, übers Wochenende London zu verlassen, damit, sollte die Bank anrufen, sie innerhalb einer Stunde an ihrem Arbeitsplatz sein können. Man erwartet ständige Anwesenheit. Das Ganze hat etwas von einer Sekte, bei der die Führer ja immer versuchen, Mitglieder von Familie und Freunden zu isolieren.

Eine Art der modernen Sklaverei. . .

Deshalb finde ich es so paradox, wenn Banker sich selbst als die Superindividualisten darstellen - während sie sich in Wirklichkeit wie Sklaven behandeln lassen.

Ist das bei allen Finanzinstituten so?

Zumindest bei allen börsennotierten Unternehmen, wo Vorstand und Aktionäre beständig steigende Renditen erwarten.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Sie ohne besondere Vorkenntnisse über die Bankenwelt, bewusst unbedarft an Ihre Recherche herangingen. Von Kapitel zu Kapitel lassen Sie dann Ihre Leserinnen und Leser an Ihren Lernfortschritten teilhaben. Warum?Meine Erfahrung ist: Wenn ich Leuten erzähle, ihr Geld sei nicht sicher, spitzen alle die Ohren. Wenn ich ihnen aber erkläre, um etwas dagegen zu unternehmen, bedürfe es einiger "Reformen der Finanzmärkte", dann winken alle sofort ab: "zu langweilig", "zu schwierig". Also dachte ich, ich fange bei meinem Buch dort an, wo der durchschnittliche Leser anfängt - bei Null. Und jedes Mal, wenn ich etwas dazu lerne, gebe ich das in meinen eigenen Worten weiter. Wir Laien sollten uns vom Fachjargon der Banker und von Berufsbezeichnungen wie Managing Director Equity Capital Markets nicht blenden lassen - ebenso wenig wie vom Fachjargon der Mediziner.

Sie halten in Ihrem Buch also auch dem Leser einen Spiegel vor.

Ich habe in den letzten Jahren so viele ganz normale Menschen getroffen, die auf die Banken wütend sind, die sich aber keinen Kopf darüber machten, wo ihre zukünftigen Rentengelder angelegt sind - nämlich genau bei diesen Banken. Deren Management sagt: "Wenn wir nicht mehr Profit machen, verkaufen wir eure Anleihen." Die meisten Leute ahnen nicht, wie sehr sie selbst in dieses ganze System verstrickt sind. Es macht uns alle zu Opfern. Banker sind lediglich die am besten bezahlten Opfer des Systems.

Ein interessanter Blickwinkel. . .

Banker hassen es übrigens, wenn ich das sage. Banker können viel einstecken, ohne böse zu werden. Wenn ich etwa neidisch auf sie bin, ist das okay. Aber wenn ich sage: "Du bist abhängig von einem Bonus, du hast eine Arbeitsstörung und wahrscheinlich keine wirklich bedeutenden sozialen Beziehungen mehr. Doch du kannst dir helfen lassen: Viele ehemalige Banker sind inzwischen als Therapeuten tätig", dann werden sie zornig. Ich bin sicher, Ihr Bruder, der Banker in Zürich, wäre furchtbar wütend auf Sie, wenn Sie ihn bemitleiden würden. Nichts ertragen Banker weniger als Mitleid.

Also sind Banker doch keine Bestien wie Leonardo di Caprio in dem Hollywood-Film "Wolf der Wallstreet"?

Filme wie dieser implizieren, das System sei im Grunde gut - und das Problem seien die charakterlichen Defizite einzelner Banker. Meinen Recherchen zufolge ist es genau umgekehrt: Nicht der Mensch Banker ist verkommen, sondern das System Bank.

Verharmlosen Sie damit nicht die Mitverantwortung, die jeder einzelne Banker für die Gestaltung seines Lebens und seiner Umwelt hat? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist voll von katastrophalen Folgen des Mitläufertums.

Natürlich trägt jeder Banker auch individuelle Verantwortung. Tun wir das nicht alle? Einer meiner Interviewpartner verglich sein Bonus-System mit dem CO2-Ausstoß. Wir alle wüssten, meinte er, dass Flugzeuge viel CO2 ausstoßen - doch wer verzichte deswegen auf seine Urlaubsreise? Alle denken: "Wenn ich verzichte, tun es die anderen noch lange nicht. Warum soll ich mir also etwas versagen?" Und Banker denken: "Warum soll ich auf meinen Bonus verzichten? Damit ihn ein anderer erhält?" Er würde riskieren, dafür sogar gefeuert zu werden, weil er damit die Regeln der Branche verletzt.

Gehört es auch zu den Regeln der Branche, lukrative, aber "faule" Finanzprodukte zu verkaufen?

Die Londoner "City" ist so etwas wie die Champions League der Finanzwelt. Die Banker der Branchenführer dort machen sich einen Sport daraus, ihre hochkomplexen Finanzprodukte an sogenannte "Muppets" zu verkaufen. So nennen sie die Fachleute in kleineren Landesbanken in der Schweiz, Holland, Deutschland oder Österreich, die die angebotenen Finanzprodukte nicht mehr durchschauen. Und die hauen sie dann gnadenlos übers Ohr.

Gibt es dagegen keine gesetzliche Handhabe?

Die Banken haben sich im Lauf der letzten vierzig Jahre sehr verändert. Bis in die 1980er Jahre, dem Beginn der Deregulierung der Märkte, waren sie Teil von nationalen Wirtschaftskreisläufen. Sie waren eingebettet in die jeweilige Kultur des Landes und wurden durch gesetzliche Vorgaben in Schach gehalten. Wer damals ehrgeizig war und Karriere machen wollte, ging nicht ins Bankfach: Banker galten als langweilig. Inzwischen ist die extreme Wettbewerbskultur aus anderen Bereichen der Wirtschaft in die Finanzwelt eingebrochen. Banken werden heute geführt wie Konzerne, die Shampoos herstellen: Das Ziel ist Profitmaximierung - im Rahmen der Gesetze.

Sollte dies nicht beinhalten, dass Banker für ihre Fehler haften?

Darin sehe ich das größte Pro-blem überhaupt: Dass die Risiken nicht von denjenigen getragen werden, die die Risiken eingehen.

Sprich, die Banker haben längst ihre Boni kassiert, wenn Aktionäre und Steuerzahler die Rechnung für ihre Fehlinvestitionen begleichen.

Solange die Banken mit solchen falschen Anreizen arbeiten, werden Banker keine Veranlassung sehen, etwas zu verändern. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich aus meiner Recherche gezogen habe: Die globalisierte Finanzwelt ist viel zu lukrativ, als dass sich das System von innen heraus reformieren ließe. Damit sich wirklich etwas ändert, brauchen wir etwas anderes: bessere Gesetze.

Dafür bräuchte es zunächst einmal bessere Politiker. Bisher setzt die Politik auf die Subven-tionierung von Banken.

Die Banken sind inzwischen zu groß, um pleite zu gehen, deshalb subventionieren sie sie - aus Angst, der Finanzsektor würde sonst zusammenbrechen. Wir könnten dann kein Geld mehr abheben, der Handel bräche zusammen, die Supermärkte, Apotheken und Tankstellen wären leer. Stellen Sie sich vor, das würde weltweit Millionen von Menschen passieren - zur selben Zeit! Einige Banker in der Londoner "City" erzählten, bei der Bankenpleite 2008 hätten sie panisch ihre Ehepartner zu Hause angerufen, sie sollten Lebensmittel und Geld horten. Einige sagten, sie hätten sich Waffen besorgt, weil sie einen totalen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung befürchteten.

Wie könnte die Politik das verhindern?

Ich habe vier Forderungen an die Politik: Es muss wieder Banken geben, die pleite gehen können - ohne dass das ganze Wirtschaftssystem gefährdet wird. Das heißt, wir brauchen wieder kleinere und überschaubare Banken. Dann darf es nicht nur einen Bonus geben, sondern auch einen Malus, damit Banker die Konsequenzen für ihre Fehlentscheidungen tragen. Drittens müssen wir allzu komplexe Finanzprodukte verbieten, um einem Betrug vorzubeugen. Und schließlich müssen innerhalb eines Unternehmens Bereiche getrennt werden, zwischen denen Interessenskonflikte bestehen.

Das klingt vernünftig, aber nicht eben sehr realistisch.

Zurzeit sind die Kräfteverhältnisse tatsächlich noch zu ungleich verteilt. Nationale Regierungen stehen transnationalen Konzerngiganten gegenüber - mit bis zu 200.000 Angestellten auf sechs Kontinenten. Mit ihren finanziellen Ressourcen können sie nicht nur schwindelerregende Boni an ihre Banker zahlen, sondern auch eine riesige Lobbymaschine unterhalten. Leider gibt es noch keine Weltregierung, die diesem Treiben ein Ende setzen könnte.

Wer also soll Ihrer Ansicht nach die notwendige Veränderung in Gang bringen?

Die Leute, die gerade dieses Interview lesen. . .

Hmm. . .

Ich meine damit die Zivilgesellschaft. In China hat der französische Wirtschaftshistoriker Thomas Piketty gerade einen Bestseller gelandet - mit einem 600 Seiten dicken Wälzer über ökonomische Ungleichheit. Für mich ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass überall auf der Welt Menschen beginnen aufzuwachen.

Sind die Gegenkräfte nicht viel zu stark?

Das haben sich die ersten Feministinnen vermutlich auch gefragt. . . Vor 200 Jahren hätten alle gelacht, wenn Sie als Frau mich um ein Interview gebeten hätten, denn Frauen galten damals als dumm. Heute würden alle mich für dumm halten, wenn ich es ablehnen würde, mich von einer Frau interviewen zu lassen. Veränderung ist möglich, sie braucht nur ihre Zeit.

Im Augenblick scheint es mehr so, als würde die Zeit für eine weitere Entwicklung in dieselbe Richtung arbeiten. Siehe die Krise vor unserer Haustür: Griechenland.

Unsere Politiker üben nur deshalb so viel Druck auf Griechenland aus, weil sonst die Banken zugeben müssten, dass sie - wieder einmal - aus Fahrlässigkeit zu hohe Kredite vergeben haben. Und die Politik müsste eingestehen, dass sie das zugelassen hat.

Und dennoch setzen Sie Ihre Hoffnungen in die Politik?

Wir werden noch viele solcher Krisen erleben. Und jedes Mal werden mehr und mehr Menschen nach einem anderen System und neuen Gesetzen rufen. Und eines Tages wird ein Politiker sich denken, dass ihm das eine Menge Wählerstimmen einbringen könnte. Und er wird sagen: "Wenn ihr mich wählt, werde ich eure Forderungen zu Gesetzen machen."

Joris Luyendijk wurde 1971 in Amsterdam geboren. Der Sozialwissenschafter arbeitet als Schriftsteller und Auslandskorrespondent. 2011 folgte Luyendijk einem Ruf des britischen "Guardian" nach London. Zwei Jahre lang führte er im Auftrag der Zeitung ein Blog mit Interviews, die er mit Bankern in der "City", dem Londoner Finanzdistrikt, geführt hatte.

Sein Buch "Unter Bankern" (Aus dem Niederländischen von Anne Middelhoek, Tropen Verlag 2015, 267 Seiten, 20,50 Euro) ist eine erweiterte Fassung dieses Blogs: Im Plauderton geschrieben, mit vielen Anekdoten, frei von ideologischem Eifer und "Banker-Bashing", stattdessen mit dem Blick des studierten Sozialanthropologen.

Weitere Bücher: "Die Kinder der Midaq-Gasse. Ein Jahr Kairo" (1998), "Von Bildern und Lügen in Zeiten des Krieges. Aus dem Leben eines Kriegsberichterstatters" (2006). Klett-Cotta/Walter White

RebeccaHillauer studierte Sozialpädagogik und lebt als Hörfunk- und Printjournalistin in Berlin. Autorin der Bücher "Freiräume - Lebensträume. Arabische Filmemacherinnen" und "Enzyklopedia of Arab Women Filmmakers".