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Eine Vorrunde ohne Todesgruppe, dazu der Videobeweis, der das Spiel verändern wird - und ab 2022 wird die WM sowieso ganz anders sein.
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Vergessen Sie alles, was Sie in Ihrem Leben an Eindrücken und Erinnerungen an die Fußball-Weltmeisterschaften gesammelt haben - die bevorstehenden Titelkämpfe in Russland sowie alle nachfolgenden werden ganz anders werden. Die engen Hosen und langen Frisuren der 78er-WM in Argentinien, der Konfettiregen und La Ola von Mexiko 1986, das triste Ballgeschiebe und Roger Millas Tänzchen von Italien 1990, die sensationellen Tore von USA 1994, das unbeschwert bunte "Zu-Gast-bei-Freunden"-Fußballfest in Deutschland 2006 oder das Vuvuzela-Geheul 2010 in Südafrika. Wir dürfen uns überraschen lassen, was Russland 2018 in dieser Hinsicht zu bieten hat, sollten aber die Erwartungshaltung von wegen großartiger Stimmung, völkerverbindendem Fan-Karneval und grandioser Weiterentwicklung des Spiels dramatisch nach unten schrauben. Zum einen sind die politischen und demokratischen Verhältnisse im größten Land der Erde nicht dazu angetan, dass der gute Geist des Sports hier in voller Kraft wirken kann - was freilich kein großes Geheimnis ist. Zum anderen holt die Daheimgebliebenen ein Blick auf den Vorrundenspielplan schnell zurück von der vier Jahre anschwellenden Vorfreude auf die harte Realität der Fernsehcouch. Wegen Nachmittagskrachern wie Schweden vs. Südkorea oder Kolumbien vs. Japan Urlaub nehmen? Oder sich wegen Abendschlagern wie Russland vs. Ägypten und Panama vs. Tunesien mit Freunden ins dichte Public-Viewing-Gedränge zu geschmalzenen Bierpreisen werfen? Wohl eher nicht. Schuld daran haben die Italiener. Und die Holländer. Und die US-Boys. Sowie natürlich das Starensemble aus Chile und das bunte afrikanische Trio Ghana, Elfenbeinküste und Kamerun. Allesamt sind sie diesmal nur Zuschauer, weshalb die Vorrunde erstmals seit Menschengedenken ohne das auskommt, was man gemeinhin "Todesgruppe" nennt - also eine schwere Gruppe mit Schlagern an jedem Spieltag.
Zugleich schwebt über der Endrunde wie ein Damoklesschwert der dunkle Schatten des Videoschiedsrichters, der in Russland seine Premiere feiert und für Puristen einen massiven Eingriff in die Integrität des Sports bedeutet. Welche Auswirkungen das Hineinregieren von außen haben wird - von der abgestochenen Tor-Euphorie bis hin zum Herumdiskutieren und Headset-Konferieren - ist nicht absehbar, weil der Einsatz des Videobeweises maßvoll, aber auch exzessiv erfolgen kann. Im besten Fall werden grobe Dummheiten ausgemerzt, im schlimmsten Falle himmelschreiende Ungerechtigkeiten erst herbeigeführt. Der Schiedsrichter hat immer recht, gilt jedenfalls ab nun nicht mehr.
Aber wenn wir einen Blick in die Zukunft werfen, dann wird von dem, was wir derzeit unter Fußball-WM verstehen, ohnedies nicht viel übrig bleiben: 2022 im November und Dezember zu Gast im Wüstenemirat Katar, nicht viel größer als Oberösterreich - alles komplett unvorstellbar. Und wenn sich ab 2026 gleich 48 Mannschaften um den WM-Pokal raufen - bei völlig anderem Vorrundenraster -,wird man das Wort Turnier eher nicht mehr strapazieren können. Wir erleben also das Ende der WM, wie wir sie kannten. Dass sich der Fußball-Fan dabei "fine" fühlt, wie es bei R.E.M. heißt, darf eher ausgeschlossen werden.