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"Es ist fünf Minuten nach zwölf"

Von Gerhard Lechner

Politik

Jahrzehnte nach dem Holocaust haben viele Juden in Europa wieder Angst um ihr Leben.


Wien. Mehr als 70 Jahre nach dem Massenmord an den Juden wird das Problem des Antisemitismus auch in Europa wieder größer. Immer mehr Juden fühlen sich, wie Umfragen zeigen, unsicher, denken an Auswanderung oder wandern - wie etwa aus Frankreich, in dem der politische Islam immer stärker wird - vermehrt aus. Dem trug die österreichische EU-Ratspräsidentschaft Rechnung. "Europa jenseits von Antisemitismus und Antizionismus - Sicherung des jüdischen Lebens in Europa" lautete der Titel einer vierstündigen hochrangig besetzten Konferenz, an der am Mittwoch neben Bundeskanzler Sebastian Kurz, Bildungsminister Heinz Faßmann, Innen-Staatssekretärin Karoline Edtstadler und EU-Justizkommissarin Vera Jourova vor allem auch zahlreiche prominente Vertreter jüdischer Organisationen teilnahmen. So leisteten etwa David Harris, der Chef des American Jewish Committees, Moshe Kantor, der Präsident des European Jewish Congress (EJC), und Dina Porat, die Chefhistorikerin der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, der Einladung von Kurz nach Wien Folge. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hätte auch kommen sollen, musste aufgrund der Regierungskrise in Jerusalem aber absagen. Von ihm wurde eine Videobotschaft eingespielt.

"Es wird immer schlimmer"

Die Dramatik des Problems umriss gleich zu Beginn EJC-Vizepräsident Ariel Muzicant. Er zeichnete ein drastisches Bild von der Lage, in der sich viele Juden in Europa mittlerweile befinden. Es werde "schlimmer und schlimmer", klagte der ehemalige Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. "Wir stehen am Scheideweg. Die nächsten Monate und Jahre sind entscheidend dafür, was mit den 1,5 Millionen Juden passiert, die auf diesem Kontinent leben", sagte Muzicant. In seinem Focus steht dabei nicht in erster Linie Österreich. Hierzulande nehme der Antisemitismus zwar auch zu, "aber wir haben nicht die Gewalt und Morde, wie sie in Frankreich, England, Schweden und vielen anderen Ländern passieren". Deshalb sei es nun an der Zeit, "mit dem Reden aufzuhören und zum Handeln zu kommen." Denn: "Es ist fünf Minuten nach zwölf."

Vom Reden zum Handeln zu kommen war auch das Ziel der Konferenz, auf der zu Beginn ein von Experten ausgearbeitetes "Handbuch gegen Antisemitismus" präsentiert wurde. Es soll helfen, um europaweit eine einheitliche Definition des Begriffs Antisemitismus festzulegen. Die österreichische Regierung, die sich laut Faßmann "sehr klar proisraelisch" positioniert hat, fühlt sich dem EU-weiten Kampf gegen Antisemitismus und Antizionismus verpflichtet. Deshalb drängt Kurz auch darauf, dass auf dem EU-Gipfel im Dezember eine europäische Erklärung gegen Antisemitismus verabschiedet wird.

Dieser Initiative verweigern sich allerdings, wie Muzicant berichtete, noch fünf oder sechs EU-Staaten, "aus irgendwelchen dummen Gründen." Davon nicht gerade begeistert war auch Netanjahu, der in einer Videobotschaft an die Teilnehmer der Konferenz die EU-Regierungen zur Annahme der Erklärung aufforderte und sich ausdrücklich bei Kurz, den er "Sebastian" nannte, bedankte.

Überhaupt wurde der Kanzler im Saal mit großem Applaus betont warmherzig aufgenommen. Dass Kurz im Sommer den iranischen Präsidenten Hassan Rouhani in Wien empfangen hatte, war dabei kein Nachteil - eher im Gegenteil: Die scharfen Worte des Kanzlers in Richtung Rouhani vor versammelter Presse - Kurz hatte die iranische Position zu Israel als "inakzeptabel" bezeichnet - blieben vielen in Erinnerung und lösten Applaus im Saal aus. Dass Kurz auch noch die EU-Staaten dazu aufrief, ihr "nicht immer ganz ausbalanciertes" Stimmverhalten bei Abstimmungen der Vereinten Nationen (UNO) über Israel zu überdenken, traf den Nerv der Zuhörer. In der UN habe sich "ein immer stärker konzertiertes Vorgehen gegen Israel" herausgebildet, das "sicher nicht als ganz korrekt bezeichnet werden kann", so Kurz, der bemüht war, Österreich als Vorkämpfer gegen Antisemitismus darzustellen.

Weber für Härte im Netz

Dabei kam er auch auf seine Migrationspolitik zu sprechen. "Wir sollten nur so viele Menschen ins Land lassen, wie wir integrieren können", argumentierte Kurz und verwies auf die Einwanderung aus muslimischen Ländern, die "Schwierigkeiten schaffen" könne, weil die dort lebenden Menschen "ein anderes Verständnis von Israel" hätten.

Widerspruch erntete Kurz für diese Ausführungen nicht, eher verhaltene Zustimmung. Die Frage, wie man die Kinder islamischer Migranten vor einem Abdriften in den Antisemitismus bewahren kann, bewegte viele Zuhörer und Diskutanten. Aufgrund der Kürze der Konferenz war es freilich kaum möglich, zu Ergebnissen zu kommen. Für viele Referenten war der Kampf gegen antisemitische Verschwörungstheorien im Internet zentral, die auch in der nicht-migrantischen Bevölkerung vermehrt auftreten.

Eine betont harte Linie verfocht dabei der konservative Spitzenkandidat für die Europawahl, der CSU-Politiker Manfred Weber. Er drohte den Betreibern von sozialen Medien strenge Konsequenzen an, wenn diese Terrorwerbung, Fake News oder Antisemitismus nicht unterbinden. Der Gesetzgeber müsse dann "mit aller Härte" seine Prinzipien durchsetzen. "Was in der realen, gedruckten Welt nicht erlaubt ist, darf auch in den sozialen Medien nicht erlaubt sein", sagte Weber.