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Islamisten wollen nicht mit "Mördern" an einem Verhandlungstisch sitzen.
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Kairo. Tarek sitzt auf dem Platz vor der Rabaa al-Adawija Moschee und schwitzt. Gerade sind die Freitagsgebete zu Ende gegangen und er hat den Schatten des Innenhofs im Gotteshaus wieder verlassen. Er blickt um sich und sieht ein paar hundert Männer und wenige Frauen, die sich ebenfalls auf dem Platz niedergelassen haben. "Die sind immer hier", kommentiert der Ägypter die Situation, "seit das losging gegen Mursi Ende Juni."
Dass später einmal eine Million Menschen sich in Nasr City versammeln sollen, mutet momentan noch sehr unwahrscheinlich an. Die Muslimbrüder und andere islamistische Gruppierungen und Parteien haben zu Massenprotesten aufgerufen und fordern nach wie vor die Wiedereinsetzung ihres "demokratisch gewählten Präsidenten", wie sie nicht müde werden zu betonen. Die Stimmung ist gedrückt. Sie sind tief getroffen durch die Art und Weise, wie man mit ihnen umgeht. "Das ist nicht fair", sagen einige Männer um Tarek. Nun würde man auch noch in Abrede stellen, dass es ein Militärputsch gewesen sei, der Mohammed Mursi entmachtet hat. "Wenn die Republikanische Garde auf uns schießt, Panzer in der Stadt präsent sind, unsere Leute verhaftet werden und dann noch die Medien von Militärs besetzt sind oder gar geschlossen werden? Das soll kein Militärputsch sein?" Tarek ist Ingenieur, 48 Jahre alt und weiß, dass die Amerikaner Ägypten die jährliche milliardenschwere Militärhilfe entziehen müssten, wenn es heißt, die Militärs haben geputscht. "Jetzt wird Kosmetik betrieben."
Warum sie denn nicht das Angebot von Übergangspremier Hazem al-Beblawi angenommen hätten und sich an der Regierung und dem vorgeschlagenen politischen Prozess beteiligen? Tarek schüttelt den Kopf. "Wir haben gerade unsere Toten beerdigt. Da können wir doch nicht mit deren Mördern an einem Tisch sitzen." Nicht nur für Tarek, auch für die Führung der Muslimbruderschaft sind Übergangspräsident Adli Mansur und der neue Premier Marionetten der Militärs. Tamarod, die Unterschriftenkampagne, die zu den Massenprotesten gegen Mursi am 30. Juni führte und die ihr angeschlossene Oppositionsbewegung Nationale Heilsfront halten dagegen. Für sie war der Sturz Mursis Volkes Wille. Das Militär habe ihnen lediglich geholfen. Ihre Galionsfigur Mohammed ElBaradei wurde zum stellvertretenden Präsidenten für Außenpolitik ernannt und soll mit seinen guten internationalen Kontakten die Amerikaner und andere Länder dazu bewegen, Ägypten weiter oder neu zu unterstützten.
Es ist heiß in Nasr City. Ein Mann geht herum und versprüht Wasser auf die Köpfe der hier sitzenden Menschen. Die Sonne brennt auf die Zelte. Es gibt kaum ein schattiges Plätzchen zwischen den vielen Wohnblocks, deren Betonwände die Hitze auf die Anwesenden abstrahlen. Doch niemand trinkt auch nur einen Tropfen des versprühten Nass. Am Mittwoch hat der islamische Fastenmonat Ramadan begonnen, und so als ob Allah seine Gläubigen auf eine besonders harte Probe stellen wolle, fegt seit Donnerstag ein heißer Samum am Nil entlang, der auch noch Staub mitbringt. Die meisten Kairoer gehen deshalb erst abends aus dem Haus, nach Sonnenuntergang, wenn sie wieder essen und trinken dürfen.
Glühende Megalopolis
Wie überall in dem 18-Millionen-Moloch Kairo, leben auch hier die Menschen dicht an dicht. "Wir sind Dosenmenschen", scherzen einige und bezeichnen ihr Dasein wie Sardinen in der Büchse. Und sie werden immer mehr. Pünktlich zum Weltbevölkerungstag hat das Zentrale Statistikamt die neuesten Bevölkerungszahlen veröffentlicht. Demnach leben jetzt fast 84 Millionen Ägypter auf dem schmalen Grünstreifen links und rechts des Nils. Jedes Jahr kommen weitere hinzu. Allein 2012 waren es 2,6 Millionen. Eine enorme Herausforderung für jede Regierung, egal welcher Couleur. "Seit der Revolution trat die demografische Entwicklung in unserem Land weitgehend in den Hintergrund", sagt Hassan Zaki, Professor für Gesellschaftsentwicklung an der Kairoer Universität. Während Mubarak, allen voran seine Frau, viel Mühe auf Geburtenkontrolle aufwendeten und vor allem auf dem Land Aufklärung betrieben, sei dies von den Islamisten völlig vernachlässigt worden.
Rashad Abdo ist da anderer Meinung. Der Vorsitzende des ägyptischen Forums für strategische und wirtschaftliche Studien sieht durchaus auch eine Chance in einer jungen, wachsenden Bevölkerung. "Es darf nicht als Hinderungsgrund für eine starke wirtschaftliche Entwicklung gesehen werden", sagt er. Abdo warnt vor den Fehlern der Mubarak-Ära, als Familienplanung eine verfehlte ökonomische Weichenstellung kaschieren sollte. "Junge Leute müssen besser ausgebildet werden, um eine produktive Kraft auf dem Arbeitsmarkt zu sein." Wenn nicht mehr die Arbeit zähle, sondern nur noch der Konsum, dann stimme das Verhältnis nicht mehr.
Doch gearbeitet wurde in letzter Zeit kaum. Tareks Firma hat zugemacht, wie so viele seit dem Beginn der Revolution im Januar 2011. Entweder die Firmeneigentümer wurden wegen Korruption und Kungelei mit dem früheren Regime angeklagt, saßen in Untersuchungshaft oder flohen ins Ausland. Mittlerweile sind zwar die meisten von ihnen wieder frei, doch die Produktion in ihren Betrieben läuft nicht wieder auf Vor-Revolutionsniveau.