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Es ist (k)ein Tory! Endspurt im britischen Wahlkampf

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Wahlkampf in der Endphase. Eine Reportage aus London über die Veränderungen im Land.


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London. "Es ist ein Tory", titelte das Boulevardblatt "The Sun" zu einem Bild von Premierminister David Cameron in einer weißen Babydecke. Das Blatt des konservativen Medienmoguls Rupert Murdoch nahm damit Bezug auf die Geburt des zweiten Kindes von Prinz William und Ehefrau Kate und empfahl zugleich den Lesern, bei der Unterhauswahl am 7. Mai für den Konservativen zu stimmen.

Die Tories können diese Wahlempfehlung gut gebrauchen. Denn bisher deutet alles darauf hin, dass die Parlamentswahl ungewöhnlich knapp ausgehen wird. Nach Angaben einer aktuellen YouGov-Erhebung würde derzeit die oppositionelle Labour Party einen Prozentpunkt vor den Tories liegen - die beiden Parteien lieferten sich von Anfang an ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Und daher gilt es als unwahrscheinlich, dass Labour oder die Konservativen die absolute Mehrheit in dem 650 Mandate zählenden Parlament erhalten werden.

Nicola Sturgeon von der Scottish National Party (SNP) werden in Schottland gute Ergebnisse prophezeit, Nick Clegg von den Liberal Democrats, Partner in Camerons Regierung, steht eine Niederlage ins Haus und die anti-EU-Partei-UKIP (UK Independence Party) Nigel Farage wird wohl auf um die 15 Prozent kommen.

Doch was beschäftigt die Londoner diese letzten Tage vor der Wahl? Es sind nicht so sehr die großen politischen Themen, wie etwa die Frage nach der Zukunft Großbritanniens in der Europäischen Uniion oder die Frage der Zukunft des Vereinigten Königreichs mit einem immer mehr nach Unabhängigkeit strebenden Schottland, die die Menschen im Alltag beschäftigen. Sondern ganz handfeste Themen, wie die immer rasantere Veränderung der Stadt, rasant steigende Immobilienpreise, die Krise des staatlichen Gesundheitsprogramms National Health Service (NHS) und Zuwanderung.

Wenn man an der Ufermauer des Old-Ship-Pubs steht und auf die Themse schaut an einem dieser warmen Frühlingstage, könnte man meinen, die Zeit in Londons Stadtteil Hammersmith sei stehen geblieben. Noch immer sammeln sich, wie in den alten Zeiten, nach Büroschluss die durstigen Seelen des Viertels zu einem Schwätzchen in der Spätnachmittagssonne. Noch immer schauen sie den roten und blauen Ruderbooten nach, die in gleichförmigem Takt über die Themse ziehen.

Kinder und Hunde tollen übers Gras, und auf einem der Holztische liegt eine Zeitung aufgeschlagen, voll mit Bildern begeisterter Royalisten. Viel anders war es auch nicht, als Diana im Juni 1982 den kleinen William zur Welt brachte. Auch damals traf man sich im Pub Old Ship, um auf die Krone anzustoßen. Auch damals zog die Themse gelassen und ungerührt zum Meer.

Wie lange aber noch wird es die Geselligkeit in Londoner Pubs geben? Immer schneller verabschieden sich die alten Kneipen von der britischen Bühne. Ein Pubbetreiber nach dem anderen gibt auf. 30 Pubs schließen im Vereinigten Königreich jede Woche, mehr als 1500 im Jahr also. Teils sterben sie, weil der Umtrunk in ihnen zu einem teuren Vergnügen geworden ist und die Leute lieber ein Sixpack Bier aus dem Supermarkt nach Hause tragen. Teils aber auch, weil Bauspekulanten dabei sind, Pubs reihenweise aufzukaufen. Die lassen sich nämlich ohne besondere Genehmigung in Mini-Läden oder in kleine Luxus-Appartments verwandeln. Und profitabel wieder veräußern.

Beträchtliche Unruhe

Tatsächlich haben akuter Wohnraum-Mangel und der Zuzug ausländischer Millionäre zu einer absurden Situation speziell in London geführt. Während die Löhne vieler Briten seit Finanzkrise und Rezession stagnieren, sind die Immobilienpreise regelrecht in die Höhe geschossen. Das ist eine Katastrophe für junge Londoner, die heute nicht mal mehr Anzahlungen für Wohnungshypotheken leisten können.

Vielen bleibt nichts anderes übrig, als im Elternhaus weiter in ihren alten Zimmern zu wohnen, oder mit Wildfremden Wohnungen und neuerdings sogar einzelne Räume zu teilen. Einige sind auf Haus- und Kanalboote ausgewichen, wie sie, mit Palmen und kleinen Gemüsegärtchen an Deck, auch hier entlang der Themse vor Anker liegen.

Im Grunde wäre ein gigantisches Wohnungsbau-Programm erforderlich - zumal London mit einem Zuwachs von eineinhalb Millionen Menschen in den nächsten zwanzig Jahren rechnet. Aber Abhilfe ist nicht in Sicht. Die Preise steigen weiter.

Der konservative Premier David Cameron hat seinen Wählern eine Rückkehr zu einem "guten Leben" versprochen, Steuererleichterungen, Kinderbetreuung und Anreize für Mieter, ihre Wohnungen zu kaufen. Labour-Führer Ed Miliband freilich wies darauf hin, dass diese Politik, die bereits auf die konservative Premierministerin Margaret Thatcher zurückgeht, zur Krise auf dem britischen Wohnungsmarkt beigetragen zu haben, indem das Angebot an erschwinglichem Wohnraum schrumpfte.

Beträchtliche Unruhe, was die Zukunft betrifft, ist diesem neuen Britannien anzuspüren. In einer jüngst veröffentlichten Erhebung des Meinungsforschungs-Instituts Opinium Research hat ein Drittel der Befragten bekannt, sich ständig über den eigenen Job, über sichere Weiterbeschäftigung Sorgen zu machen. Ebenso vielen bereitet Geldnot schlaflose Nächte.

Ein Wunder ist das nicht. Im vorigen Herbst hat London als Wohnort und Arbeitsplatz Hongkong als teuerste Stadt der Welt überflügelt. Vom Lebensmitteleinkauf bis zu den Heizungskosten, von der morgendlichen Busfahrt bis zum abendlichen Kinoticket ist das Leben äußerst kostspielig geworden.

Eine immer größere Zahl junger Londoner hat sich in den vergangenen Jahren daran gewöhnt, ganz ohne Auto zu leben. Und das nicht nur, weil es vielerorts in der Hauptstadt unmöglich geworden ist, sich auf vier Rädern zu bewegen. Sondern weil sich alles finanziell schnell summiert, von der Gebühr fürs Parken vorm Haus bis zur Maut für die Londoner Innenstadt und scharfen 100-Euro-Strafen beim allerkleinsten Regelverstoß. Also sitzen nun viele nolens volens im Fahrradsattel statt hinter dem Lenkrad.

Mehr grüne Themen

Für einige ist der Übergang zum Rad auch ein Zeichen größeren Interesses an "green issues", an Umweltfragen. Denn auch im Old Ship ist, wenn die Nacht lang wird, von bröckelnden Küsten oder etwa vom Kampf ums Fracking im Königreich die Rede.

Vom Streit um Windräder wird gesprochen, und von den neuen Ölfunden, die Gatwick zu einem englischen Texas machen sollen. Und natürlich von der endlosen Kette von Flugzeugen, die im Anflug auf Heathrow im 70-Sekunden-Takt genau über die Köpfe der Pub-Gäste ziehen.

Vieles hat sich geändert seit der Geburt Williams. Zum einen haben die Frauen, zumindest in den Medien, an Terrain gewonnen. Während sie in Politik und Wirtschaft noch immer nur mühsam vorankommen, kann es schon mal passieren, dass eine BBC-Nachrichtensendung von zwei Sprecherinnen, einer Kommentatorin und einer "Wetterfrau" präsentiert wird.

Auch gleich hier, vor dem Old Ship, wurde im März dieses Jahres ein Stückchen Gleichberechtigungs-Geschichte gemacht. Erstmals nach 88 Jahren traten die Frauen-Achter aus Oxford und Cambridge am gleichen Tag wie die Männer-Teams mit gleicher Fernseh-Präsenz zum Ritual des Bootsrennens an.

Fragen der nationalen Identität

Und auch schwarze und braune Gesichter inzwischen zu einer selbstverständlichen Präsenz im britischen TV geworden. Zusammen mit immer mehr Einwanderern aus Europa bilden sie "das neue London". Londoner, die sich als "weiße Briten" beschreiben, sind in der Minderheit an der Themse. Immigranten aller Hautfarben und ihre Kinder und Kindeskinder bilden die Mehrheit in diesem quirligen Gemenge.

Spannungen gibt es vor allem in ärmeren Bezirken. Unter dem Eindruck der jüngsten Nachrichten über islamistische Extremisten wünschen sich der Opinium-Research-Erhebung zufolge viele alteingesessene Briten beispielsweise, dass Moslems "besondere Loyalität" gegenüber Großbritannien demonstrieren sollten.

Nationale Identität ist in vielfacher Hinsicht zu einem Thema geworden. Auf Hammersmith Terrace etwa, einer ruhigen kleinen Wohnstraße in unmittelbarer Nähe des Old Ship, hat plötzlich jemand ein riesiges Fahnentuch mit dem Sankt-Georgs-Kreuz, der englischen Flagge, quer über die Straße aufgespannt.

Das könnte natürlich, aufgerührt vom gegenwärtigen Wahlkampf, eine Geste englischer Selbstbehauptung gegenüber den immer keckeren Schotten sein. Oder es ist ein Signal an "die Europäer", denen man sich bis heute nicht wirklich zugehörig fühlt.

Laut Opinium Research mögen sich nämlich noch immer sechs von zehn Briten nicht gern als "Europäer" einordnen lassen. Acht von zehn englischsprachigen Briten sprechen keine andere europäische Sprache als die eigene.

Und eine knappe Mehrheit derer, die es sich überlegt haben, würde, wenn sie könnte, lieber heute als morgen aus der EU austreten. Im polyglotten London sind es allerdings nicht ganz so viele. Die Uhren ticken in London anders als im "Hinterland" des Vereinigten Königreichs.

Vielleicht ist die Fahne aber auch lediglich ein Ausdruck der Unterstützung des Königshauses? Die Wertschätzung für die Royals liegt nämlich, den Opinium-Umfragen zufolge, fünf Mal so hoch wie für die Politiker des Landes, die derzeit um Stimmen für die Parlamentswahl am 7. Mai ringen. Darin wenigstens hat sich in dreißig Jahren nichts geändert. Ihre ungewählte soziale Elite lieben die Briten. Die sich zur Wahl stellen müssen, haben es wesentlich schwerer.