Gipfeltreffen der Spitzendiplomatie in Wien: Die Vertreter von EU, Großbritannien und USA demonstrieren Einigkeit.
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Ein Gipfeltreffen der Wiener Spitzendiplomatie zum Abschied: US-Botschafterin Victoria Reggie Kennedy, Großbritanniens Botschafterin Lindsay Skoll sowie der frühere Generalsekretär der EU-Kommission und heutige Leiter der Vertretung der EU-Kommission in Österreich, Martin Selmayr, haben die "Wiener Zeitung" zu einem gemeinsamen Interview geladen. Um dem altehrwürdigen Blatt die Reverenz zu erweisen und um über die jüngsten Turbulenzen in Moskau, den Krieg in der Ukraine, Österreichs Neutralität und das Ende der "Wiener Zeitung" in ihrer bisherigen Form zu sprechen.
"Wiener Zeitung": Welche Schlüsse ziehen Sie aus den jüngsten Geschehnissen in Moskau? Betrachten Sie nun nach diesem Söldneraufstand - oder war es ein Putschversuch? - Russland als "failed state"?Victoria Reggie Kennedy: Diese Geschichte von Jewgeni Prigoschin und Wladimir Putin ist noch nicht zu Ende geschrieben. Eines ist aber klar: Unser Fokus liegt ganz klar auf der Ukraine. Wir stellen uns die Frage, was das nun alles für die Ukraine bedeutet.
Martin Selmayr: Ich glaube nicht, dass Russland ein "failed state" ist. Das wäre übrigens auch in niemandes Interesse - ein instabiles Russland, in dem Chaos herrscht, ist ein noch gefährlicheres Russland. Aber: Die Risse im Machtgefüge in Moskau sind deutlich zutage getreten. Wir werden also unsere Unterstützung für die Ukraine verdoppeln oder verdreifachen. Was an diesem Wochenende passiert ist: Russland dämmert langsam, dass dieser Krieg nicht nur ein Verbrechen an der Ukraine, sondern auch ein Desaster für Russland ist.
Lindsay Skoll: Gerade eben ist in London die "Ukraine Recovery Conference" über die Bühne gegangen, wo weitere 60 Milliarden Dollar an Hilfen für die Ukraine beschlossen wurden. Wir werden uns von unserem Kurs nicht abbringen lassen - es ist ganz klar, dass die Ukraine nach diesem Krieg ein friedliches, wohlhabendes Land sein soll, mit einer lebendigen Demokratie und einer stabilen Gesellschaft. Was die Ereignisse vom Wochenende betrifft: Was bei vielen Bürgerinnen und Bürgern in Russland Eindruck gemacht hat, war, als sie das erste Mal direkt aus dem Mund des Söldnerkommandanten Prigoschin gehört haben, dass der die Ukraine betreffende Masterplan des Kreml nicht so läuft, wie es ihnen bisher aufgetischt worden ist.
Der Umgang des Westens mit Putin war nicht gerade klug. Welche Lehren ziehen Sie daraus?Kennedy: Im Moment müssen wir vor allem nach vorne blicken. Wir haben es bei Wladimir Putin mit jemandem zu tun, der beschlossen hat, ein Nachbarland anzugreifen. Wir haben es mit jemandem zu tun, der internationale Verträge als gegenstandslos betrachtet, international anerkannte Grenzen missachtet und die UN-Charta mit Füßen tritt.
Selmayr: Worin wir alle einer Meinung sind: Es ist nie eine gute Idee, mit Putin zu tanzen. Und zwar zu keinem Zeitpunkt, egal in welcher Konstellation. Und was unseren Umgang mit Putin betrifft: In der Rückschau sind wir alle klüger. Eine Lehre, die man jedenfalls ziehen kann, ist, dass man einem Verhandlungspartner, der ein demokratisches Land vertritt, vertrauen kann. Freilich, auch in Demokratien passieren Fehler. Aber in Demokratien gibt es eine Opposition, es gibt kritische Medien - die Fehler kommen ans Licht, und die Regierung nimmt eine Kurskorrektur vor - wenn nicht, dann gibt es bei den nächsten Wahlen für die Wählerinnen und Wähler die Gelegenheit, fehlerhafte Politik zu korrigieren. In einer Diktatur ist das anders. Russland erlebt gerade, was es bedeutet, wenn die Machthaber keiner Kontrolle unterworfen sind. Man sieht daran, welche schrecklichen Konsequenzen das für ein Nachbarland - nämlich die Ukraine - hat, aber man sieht auch, welches Desaster Putin für das russische Volk kreiert hat.
Skoll: Der Krieg in der Ukraine ist eine existenzielle Frage. Und zwar nicht nur für die Ukraine, sondern auch für den Rest der Welt. Putin kann diesen Krieg morgen beenden, indem er seine Truppen auf russisches Territorium zurückzieht. So einfach ist es. Es geht aber nicht nur um die Ukraine, sondern es geht um das Ringen zwischen Demokratie und Autokratie.
Selmayr: In jeder Krise steckt auch eine Chance. Und es ist bemerkenswert, wie eng die westlichen Mächte seit dem Beginn des Krieges zusammenarbeiten. Wir mögen in manchen Fragen unterschiedlicher Meinung sein, aber wenn es um die Rechtsstaatlichkeit geht und wenn es um die Verteidigung der Demokratie geht, dann stehen wir so eng zusammen, wie lange nicht.
Kennedy: Freiheitsliebenden Nationen stehen unisono zusammen, ihre Botschaft ist: Mit dieser Invasion wird Putin nicht durchkommen. Das hat sich auch bei der UN-Generalversammlung gezeigt, als sich eine überwältigende Mehrheit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gegen Russland gestellt hat. Es ist allen bewusst geworden, dass ohne internationale Ordnung Chaos droht. Ich glaube nicht, dass Putin diese Einigkeit erwartet hat. Weder die Einigkeit in Bezug auf die Sanktionen noch, als es darum ging, einen gemeinsamen Kurs in der Abwehr von Putins Aggression zu finden, und auch nicht, als es um die Unterstützung für die Ukraine - sowohl in humanitärer als auch in militärischer Hinsicht - ging.
Kennedy: Ich möchte einen wichtigen Punkt, das Problem der russischen Desinformation, ansprechen. Eine der wichtigsten Zeitungen der USA, die "Washington Post", druckt den Slogan "Democracy Dies in Darkness" gleich neben dem Zeitungstitel ab - und diesen Slogan finden Sie natürlich auch im Internet. Mir ist ganz wichtig zu betonen: Wir brauchen Qualitätsjournalismus. Journalisten spielen eine zentrale Rolle im Kampf gegen Desinformation.
Skoll: So ist es. Regierungen oder Diplomaten können sich Tag und Nacht über das Problem der Desinformation aus russischen Trollfabriken den Mund fusselig reden, aber unabhängiger Journalismus ist das wirksamste Antiserum dagegen.
Die Ironie ist, dass ich hier bei Ihnen sitze und wir über Desinformation und die Bedeutung von Qualitätsjournalismus reden, während die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen - und auch ich selbst - schon übermorgen keinen Job mehr haben werden.Selmayr: Genau das ist auch der Grund, warum wir hier und heute miteinander sprechen und wir der "Wiener Zeitung" dieses Interview geben. Ich bedaure es außerordentlich, dass es die "Wiener Zeitung", die wahrscheinlich älteste noch existierende Tageszeitung der Welt, nicht mehr in ihrer bisherigen Form geben wird. Wir alle bedauern, dass das unser letztes Interview mit der gedruckten Ausgabe der ältesten Zeitung sein wird. Aber ich will optimistisch sein: Jedes demokratische Land braucht Qualitätsjournalismus.
Ich danke Ihnen aufrichtig für diese Geste. Bleiben wir in Österreich: Welche Erwartungen haben Sie an die Bevölkerung und an die Regierung, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht?Kennedy: Ich glaube, es war wirklich wichtig, dass die offiziellen Stimmen Österreichs klar formuliert haben, dass Neutralität nicht gleichbedeutend ist mit Gleichgültigkeit. Dass Neutralität nicht Äquidistanz bedeutet. Dass es im Falle des Kriegs in der Ukraine ein klares Gut versus Böse gibt. Und dass die Neutralität Österreichs keine moralische oder politische Neutralität, sondern eine militärische Neutralität ist.
Selmayr: Österreich hat seine militärische Neutralität erklärt, ist aber moralisch nicht neutral. Österreich ist ein wichtiger Akteur auf dem Feld der humanitären Hilfe für die Ukraine. Es dauerte eine Weile, bis Österreich zur humanitären Entminung dabei war - doch nun ist das so, und das ist bedeutsam, weil Österreich auf diesem Feld wertvolle Expertise besitzt. Ein weiterer wichtiger Punkt: Wie wird sich Österreich aus der Abhängigkeit vom russischen Gas befreien? Denn eines ist klar: Wann immer Österreich Gas aus Russland bezieht, wandert österreichisches Geld auf russische Konten, und mit diesem Geld finanziert Russland seinen mörderischen Krieg gegen die Ukraine. Gerade ein friedliebendes Land wie das neutrale Österreich muss alles unternehmen, um solche Geldflüsse zu stoppen. Die EU steht Österreich beim gemeinsamen Bezug von Gas zur Seite. Und sie steht Österreich beim Ausbau der erneuerbaren Energiequellen zur Seite - einem Sektor, in dem Österreich beträchtliche Stärken hat.
Skoll: Österreich hat sich jahrzehntelang der Brückenfunktion zwischen Ost und West gerühmt, dafür brauchte man gute Beziehungen zu Moskau. Aber: Wir leben im Jahr 2023. Nun gibt es Krieg in Europa, und wir können nicht mehr zurück zum Status quo ante. Das erfordert ein schmerzhaftes intellektuelles, emotionales und auch ökonomisches Umdenken. Und da erlaube ich mir noch einmal, einen Appell für Qualitätsjournalismus in die Runde zu werfen. Darüber muss debattiert werden. Und dafür müssen die Bürgerinnen und Bürger Zugang zu guten Information haben, was vor sich geht und wie die Welt sich ändert. Ohne erstklassige Informationsquellen, ohne Qualitätsjournalismus ist das nicht möglich.