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Schwere Unfälle sind ebenso Teil des Sports wie Triumphe und Rekorde. Sie befriedigen offenbar eine voyeuristische Ader im Menschen. - Welchen Defiziten soll dadurch abgeholfen werden?
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In Kitzbühel hat das zweite Jahr in Folge ein Hahnenkamm-Wochenende ohne Schwerverletzte stattgefunden. Die Stürze, die heuer auf den witterungsbedingt mehr (Super G) oder weniger (Abfahrt) entschärften Speed-Strecken passierten, beschäftigten nur die Pistenkommandos, nicht aber die Rettungskräfte.
Als bestünde damit ein wesenhafter Zusammenhang, lag 2014 auch die Zahl der Seher, die die Abfahrt via ORF mitverfolgten, mit durchschnittlich 1,1 Millionen deutlich unter den annähernd eineinhalb Millionen, die sie die letzten Jahre üblicherweise vor die Bildschirme lockte. Der Promi-Abtrieb aber signalisierte mit der Präsenz Arnold Schwarzeneggers, Andreas Gabaliers, Sebastian Vettels, Felix Baumgartners, Kristina Sprengers und den üblichen Verdächtigen wie Niki Lauda, Bernie Ecclestone, Fiona Grasser oder DJ Ötzi die reibungslose Funktionstüchtigkeit des Spiels mit Spektakel und Gefahr, das Kitzbühel so perfekt inszeniert wie kein anderer Austragungsort im Alpinen Ski-Weltcup.
Schicksalsstrecken
Leben sind nach Unfällen in Kitzbühel schon auf dem Spiel gestanden. Zahlreiche Karrieren fanden hier ein vorzeitiges Ende: jene der Kanadier Todd Brooker und Brian Stemmle, des Schweizers Daniel Albrecht, der Österreicher Hans Grugger, Roland Assinger, Andreas Buder, Patrick Ortlieb und etlicher anderer.
Nicht, dass es neben der Streif nicht andere Drama- und Schicksalsstrecken gäbe: Wengen, wo 1991 der junge Österreicher Gernot Reinstadler starb; Garmisch, wo der Todessturz der Weltmeisterin Ulrike Maier 1994 auch das Ammenmärchen widerlegte, wonach es im Skisport nur unerfahrene Nachwuchsläufer erwische; Beaver Creek, wo der Olympiasieger, fünffache Weltmeister und zweifache Gesamt-Weltcupsieger Axel Lund Svindal nach einem Sturz in Lebensgefahr schwebte; Val d’Ísère, wo die Karriere des Schweizer Spitzenabfahrers Silvano Beltrametti im Rollstuhl endete.
Schließlich Knitfjell, wo der Österreicher Matthias Lanzinger im Super-G so schwer stürzte, dass ihm danach der Unterschenkel amputiert wurde. Ob das unvermeidlich war, wird bis heute massiv angezweifelt: Bei diesem Unfall manifestierte sich neben den horrenden immanenten Gefahren des Skisports auch auf schockierende Weise, auf welchem vorsintflutlichen Stand dessen Sicherheits- und Versorgungsstandards teilweise noch sind.
Diese Saison gab es, die Verletzung Lindsey Vonns in Colorado ausgenommen, noch vergleichsweise wenig Dramen auf den Pisten. Aufreger des Winters war der schwere Sturz des Skispringers Thomas Morgenstern. Wo ein Sport-Unfall, da seine Dokumention in bewegten Bildern. Der ORF agiert hierbei sehr "gewissenhaft". Passieren Unfälle mit tödlichem Ausgang oder - wie im Fall des Autorennfahrers Alex Zanardi - wenigstens mit bleibendem Personenschaden, dann zeigt der ORF auch Szenen aus Sport-Bereichen, die er normalerweise nicht einmal ignoriert: etwa der Motorrad-WM oder der Indycar-Serie, dem viel sympathischeren, aber auch ungleich gefährlicheren amerikanischen Pendant zur Formel 1.
Zu Teilen findet Kritik, der ORF könne fatale Unfälle offenbar gar nicht oft genug herzeigen, bei dessen Sportchef Hans Peter Trost ein offenes Ohr. In einem Fall, räumt Trost ein, sei auch ihm eine Szene zu oft gezeigt worden. Das war gar nicht in einer Risikosportart, sondern beim Fußball-Bundesligaspiel LASK gegen Red Bull Salzburg im April 2010: das brutale, nur mit einer Gelben Karte geahndete Foul des Linzer Stürmers Lukas Kragl am Salzburger Tormann Eddie Gustafsson, der dadurch einen Schienbein- und mehrfachen Wadenbeinbruch erlitt. Oft aber, meint Trost, beruhe der Eindruck einer "unfallgeilen" ORF-Sportredaktion auf einer Wahrnehmungs-Verschiebung: "Den Morgenstern-Sturz etwa haben wir als ORF-Sport nur zwei Mal gezeigt. Ob ihn auch andere Abteilungen bringen, liegt außerhalb unseres Einflusses."
Gefühl für die Gefahr
Es gelte, wie Trost betont, bei der Wiedergabe von Unfällen einen Spagat zwischen respektvollem Abstand und Nicht-Verharmlosen zu bewältigen. "Speziell beim Skispringen ist jedes Gefühl für die Gefahr, die damit verbunden ist, verloren gegangen. Man glaubt, es sei ganz einfach - man fährt runter, springt, landet und schwingt ab. Bei Morgenstern zeigt sich, wie gefährlich es wird, wenn’s einem den Ski fängt. Was man allerdings nicht unbedingt immer zeigen muss, ist, wie er aufschlägt und den Hang hinunterkollert."
Auch beim Sturz Hans Gruggers vor zwei Jahren auf der Streif habe der ORF, wie Trost erzählt, nicht alles gespielt, was er im Köcher hatte: "Wir waren mit der Kamera bei der Mausefalle und daher bei der Versorgung und Bergung nahe dran. Aber diese schlimmen Bilder haben wir nie gebracht." Einen Druck seitens der Seher, Unfälle besonders oft und ausführlich zu zeigen, gäbe es nicht, betont Trost. "In vielen Fällen ist eher das Gegenteil feststellbar - Leute wollen so was gar nicht sehen."
Auch der Philosoph Konrad Paul Liessmann bekundet Zweifel an der weitverbreiteten Unterstellung, dass viele Menschen gerne Bilder heftiger Unfälle sähen. "Zahlreiche Menschen verfolgen ja ein Langlauf- oder Biathlonrennen mit demselben Enthusiasmus wie einen Abfahrtslauf - und da ist das Risiko schwerer Verletzungen ziemlich gering. Und ich glaube auch nicht, dass Menschen ein Skispringen wegen der doch eher selten auftretenden Möglichkeit spektakulärer Stürze ansehen. Entscheidend ist doch die Spannung, die ein Wettkampf, ein Duell erzeugt und der Rausch des Triumphs, an dem der Zuschauer partizipieren will."
Es gibt keine wissenschaftlichen Erhebungen, die stichhaltig eine besondere Unfallaffinität des Sport-Publikums verifizieren (oder auch falsifizieren). Auch die Präferenzen der Fans erwiesener Risiko-Sportarten sind nie untersucht worden. Allerdings gibt es Indikatoren, die gewisse Rückschlüsse zulassen: Einer ist die historische Tatsache, dass es tödliche Spektakel zur Unterhaltung der Massen in Form der Gladiatorenkämpfe und der Quadrigarennen schon in der Antike gab. "Sogar der Heilige Augustinus konnte sich der Faszination der Gladiatorenspiele nicht entziehen" konzediert Liessmann.
Ein anderer sind die Klickraten auf dem Videoportal YouTube: Neben Dramen wie dem plötzlichen Herztod des Fußballers Miklos Féher von Benfica Lissabon sind es Motorsportvor- und -Unfälle, die millionenfach angesehen werden.
Das meistgeklickte Video dieser Spezies mutet allerdings an wie ein obskurer Mutant: Es zeigt nämlich einen zu Tränen gerührten Michael Schumacher bei der Pressekonferenz nach dem Grand Prix von Italien im Jahr 2000 in Monza, wo er eben erfahren hat, dass er Ayrton Senna an Grand Prix-Siegen egalisiert hat. Was indessen weder dem weinenden Fahrer bewusst war noch jenem "FredVasquez", der das Video für 6,7 Millionen nachfolgende User auf YouTube gestellt hat, ist, dass bei besagtem Italien-Grand-Prix eine Tragödie passiert war: In seinem Verlauf wurde ein Streckenposten getötet - was notabene dem Argument, in der Formel 1 sei seit Ayrton Senna "niemand" mehr gestorben, eine grausam dumme Anmutung verleiht.
Hinter Schumachers Gefühlsausbruch, dessen Klickrate wohl auch vor dem Hintergrund seines schweren Ski-Unfalls zu begreifen ist, folgen tödliche Crashes: Mit 4,6 Millionen ist deren meistgefragter der Unfall Ayrton Sennas 1994 in Imola. Etwa dreieinhalb Millionen Mal wurde nachzuverfolgen versucht, wie am 1. November 1999 das kanadische Supertalent Greg Moore beim Indycar-Rennen in Fontana zerschellte. Rund drei Millionen Mal wurde die Massenkarambolage von 2011 auf dem Oval von Las Vegas abgerufen, die den britischen Indy-Star Dan Wheldon das Leben kostete. Noch gefragter als der Tod Wheldons ist auf YouTube der Feuerunfall Niki Laudas. Alpiner Spitzenreiter ist, wenig überraschend, der schon zur Sport-Folkore zählende "Abflug" Hermann Maiers bei den Olympischen Winterspielen 1998 in Nagano.
"Natürlich gehört zu Risikosportarten auch das Spiel mit dem Risiko, und das bedeutet eben auch eine bestimmte Angstlust angesichts des Unwahrscheinlichen", räumt Liessmann ein. "Derartige Sportarten werden zwar an sich immer sicherer - das erhöht aber den Sensationswert, wenn trotz allem etwas passiert. Sich solchen Risiken auszusetzen, gehört aber zur Grundausstattung des Helden. Wenn das Publikum sich solche Unfälle in Zeitlupe ansieht, dann holt es sich nur zurück, was ihm versprochen worden war: dass das moderne Heldentum nicht am Schlachtfeld, sondern in der Sportarena zu finden ist. Und überdies gilt auch hier der Grundsatz aller Ästhetik, den Ferdinando Galiani, ein von Marx und Nietzsche gleichermaßen geschätzter Autor des 18. Jahrhunderts, formuliert hatte: Je sicherer der Zuschauer und je größer die Gefahr ist, die er sieht, desto mehr interessiert er sich für das Schauspiel. Das ist der Schlüssel zum ganzen Geheimnis der Kunst. Zuschauern, die sich recht behaglich fühlen, müssen Leute in der unangenehmsten Lage vorgeführt werden. Und was gibt es Unangenehmeres als einen Sturz bei 100 km/h? Und was gibt es Behaglicheres als einen Fernsehstuhl?"
Leiden mit dem Opfer
Der Psychotherapeut und klinische Psychologe Leonardo Schey wiederum verweist auf die Erwartungsspannung, die durch den Sport mit großer Intensität aufgebaut wird. "Fällt ein Tor für meine Mannschaft, dann entlädt sich diese Spannung auf positive Weise. Passiert etwas Schlimmes, hat man Schuldgefühle. Dann leiden wir alle mit dem Opfer und vergessen darüber unsere Gedanken an die dringlichen Probleme unserer Zeit, etwa die Arbeitslosigkeit."
Wenn demzufolge also Sportunfälle eine in letzter Konsequenz sogar eskapistische Funktion erfüllen, so offerieren sie andererseits, was Liessmann das "Faszinationsangebot der Realität" nennt: Im Gegensatz zu Grausamkeiten, die der Mensch in Computerspielen oder Kinos konsumiert, haben sie definitv stattgefunden. "Und je virtueller unsere Welt, desto größer die Sehnsucht nach Wirklichkeit. Vielleicht sollen die Zeitlupe-Wiederholungen von Sportunfällen auch dieses signalisieren: Sieh her, es ist wirklich passiert!"
Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in Wien und ist ständiger Mitarbeiter der "extra"-"music"-Seite. Zuletzt ist sein Erzählungsband "Katastrophen" (Arovell, 2010) erschienen.