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Es knirscht im Koalitionsgebälk

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Europaarchiv

Liberale sehen sich durch Mehrheitswahlrecht diskriminiert. | Labour kann sich nicht auf einheitliche Linie verständigen. | London. Seit Jahrzehnten fordern die britischen Liberalen ein faireres Wahlsystem auf der Insel. Das alte - das Mehrheitswahlrecht - lässt ihnen und anderen kleineren Parteien wenig Chance. Am heutigen Donnerstag wird über eine Reform des Wahlrechts abgestimmt, das Votum sorgt für Streit mit den konservativen Tories.


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Die sind strikt für einen Beibehaltung des alten Wahlrechts, mussten aber auf ihren liberalen Koalitionspartner Rücksicht nehmen und dem Referendum zustimmen.

Jetzt hängt in der britischen Regierung der Haussegen schief. Die Tories behaupten, die Wahlrechtsreform begünstige Extremisten, die Liberalen sind empört und sprechen von "Goebbels-ähnlichen" Verleumdungen. Die Gegner der Reform werden als "reaktionäre Clique" bezeichnet. Die Tories revanchieren sich und zeihen den Koalitionspartner der Lüge. Die ersten Wetten auf Neuwahlen sind platziert.

Traditionell wird das britische Unterhaus nach dem System "First past the Post" gewählt. In jedem Wahlkreis ist derjenige Kandidat gewählt, der "die Nase vorn" hat, also die meisten Stimmen erzielt. Listen oder Zweitstimmen gibt es nicht. Ein solches System verschafft den beiden großen Parteien klare Vorteile. In ländlichen und südlicheren Bezirken setzen sich die konservativen Kandidaten durch, während in industriellen Gebieten und in den Großstädten des Nordens Labour-Leute zum Zug kommen. Bewerber der Liberalen landen oft an zweiter oder dritter Stelle. Das bedeutet, dass sie landesweit einen beachtlichen Stimmenanteil verzeichnen können, aber keine entsprechende Zahl an Mandaten erhalten. Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass viele Wähler von vornherein eine Stimme für kleinere Parteien für eine verlorene Stimme halten.

Einsamer Grünpolitiker

Das hat zum Beispiel den britischen Grünen den Einfluss verwehrt, den grüne Parteien anderswo in Europa haben. Über ein einziges Mandat verfügen die Grünen derzeit im Unterhaus. Zustande gekommen ist es durch eine besondere Konstellation im "alternativ" gestimmten Seebad Brighton. Anders verhält es sich wieder mit walisischen und schottischen Nationalisten, weil deren Parteien Hochburgen in ihren jeweiligen Ländern besitzen. Die Liberalen dagegen kämpfen an allen Fronten. Und kommen, wie im letzten Mai, mit 23 Prozent aller Stimmen im Königreich auf weniger als 9 Prozent der Unterhaus-Plätze. Viel Gewicht können sie damit nicht in die Waagschale werfen. Dass sie es voriges Jahr als Juniorpartner in die Regierung schafften, hatte ausschließlich mit der Schwäche beider großen Parteien bei diesen Wahlen zu tun.

Eine zentrale Bedingung der Partei für den Einstieg in eine Koalition mit den Konservativen war darum, begreiflicherweise, ein Deal über eine Volksabstimmung zur Änderung des Wahlrechts. Eine solche Gelegenheit mochte sich so schnell nicht wieder ergeben. Die Konservativen stimmten einem Referendum zu, solange es ihnen frei stand, gegen die Reform zu Felde zu ziehen. Außerdem beharrten sie darauf, dass die Nation höchstens zum Modell der "Alternativen Stimme" (Alternative Vote, AV), nicht aber zu echten Proporzmodellen befragt werden durfte.

Proporz konnten die Liberalen also nicht durchsetzen. Mit der "Alternativen Stimme" waren sie bereit, das Prinzip der Entsendung je eines Abgeordneten aus jedem einzelnen Wahlkreis beizubehalten. Geändert werden soll nur der Wahlvorgang selbst. Statt, wie bisher, hinter einem der Kandidaten ein Kreuz zu machen, sollen die Wähler künftig die Kandidaten auf dem Wahlkreis-Zettel nach Belieben nummerieren.

Das System funktioniert so, dass bei der Eliminierung des schwächsten Kandidaten dessen Zweitstimmen an die verblieben Kandidaten verteilt werden. Dieser Vorgang wird so lange wiederholt, bis nur noch zwei Kandidaten übrig bleiben und einer von ihnen folgerichtig mehr als 50 Prozent der Stimmen hat. Damit können die Wähler ihre Stimmen so verteilen, dass sie zum Beispiel einer kleinen Partei ihre Erststimme geben, mit ihren weiteren Stimmen aber sich in der einen oder anderen Richtung absichern. Der siegreiche Kandidat weiß zugleich eine absolute Mehrheit der Wähler seines Wahlkreises, statt 40 oder gar nur 30 Prozent, hinter sich.

Reform "unbritisch"

Die Konservativen wollen von dieser Wahlrechts-Version indes nichts wissen. Sie profitieren als normalerweise stimmenstärkste Partei in Britannien am meisten vom bisherigen System. Zwei Drittel des gesamten 20. Jahrhunderts stellten sie allein die Regierung, obwohl sie nur zweimal (1900 und 1931) eine absolute Mehrheit schafften. Zumindest, argumentieren die Tories, schaffe das Mehrheitswahlrecht "klare Regierungsmehrheiten". "Permanente Koalitionen", wie man sie bei der Übernahme von AV zu erwarten habe, seien nichts für die Insel, findet Premierminister David Cameron. Das System, das die Liberalen forderten, sei "unbritisch" und "undemokratisch". Es begünstige kleine extremistischen Parteien und überfordere die Wähler. Und man müsse Maschinen zur Wahlzettel-Auszählung für hunderte von Millionen Pfund beschaffen.

Die Befürworter der Reform halten das für völligen Unfug. Keine solchen Maschinen, entgegnen sie, würden benötigt. Die rechtsextreme Britische Nationalpartei, die BNP, plädiere selbst fürs Beibehalten der alten Ordnung, was Bände spreche. Und es sei reichlich arrogant, wenn die Tories den Wählern nicht zutrauten, bis drei zählen zu können - statt nur ihr angestammtes Kreuz zu machen. Bei ihrem Nein zu AV spielten die Konservativen "auf empörende Weise" mit Ängsten der Bevölkerung, erzürnte sich vorige Woche Energieminister Chris Huhne. Er könne "kaum glauben, dass so etwas von unseren Koalitionspartnern kommen kann".

Dummerweise würden die konservativen Verteidiger des Status quo von einigen "Dinosauriern" der Labour Party und der Gewerkschaften unterstützt. Die glaubten irrigerweise, Labour fahre besser mit gelegentlichem Alleinregieren als mit der Herausbildung solider linksliberaler Koalitionen. In der Tat fällt es Labour schwer, sich zwischen den Modellen zu entscheiden. Partei und Labour-Anhänger sind gespalten in diesem Punkt. Parteichef Ed Miliband ist für Reform. Aber viele seiner Wähler haben Zweifel. Oder sie würden den Liberalen für ihren Regierungs-Pakt mit den Tories gern eins auswischen. Der Ausgang des Referendums am heutigen Donnerstag ist darum einigermaßen offen. Sehr zuversichtlich sind die Reformer allerdings nicht.