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Heuer legt BIP in Deutschland um 3,5 Prozent zu. | Experten warnen: Vorkrisenniveau noch nicht erreicht. | Berlin. Auf den ersten Blick sieht alles rosig aus. Plötzlich ist der Aufschwung da, mit Österreichs wichtigstem Handelspartner geht es steil bergauf: Um 3,5 Prozent wird die Wirtschaft in Deutschland heuer wachsen, hieß es am Donnerstag in Berlin bei der Präsentation des Herbstgutachtens der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute.
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Noch vor einem halben Jahr waren die Experten eher zurückhaltend gewesen und hatten ein Wachstum von 1,5 Prozent vorausgesagt. 2009 war das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 4,7 Prozent eingebrochen.
Weniger Arbeitslose, mehr Steuereinnahmen
Jetzt sieht die Sache anders aus. "Es kommen gute Jahre auf uns zu", prognostizierte Kai Carstensen vom Münchner Institut für Wirtschaftsforschung (ifo). Das heißt: Weniger Arbeitslose, höhere Steuereinnahmen. Denn Schwellenländer wie China und Indien fragten kräftig deutsche Erzeugnisse nach. In Deutschland wiederum hat Kurzarbeit viele in Beschäftigung gehalten, das stärkte die Kaufkraft.
Der deutsche Wirtschaftsminister Rainer Brüderle war aus dem Häuschen. "Der XL-Aufschwung geht weiter", sagt er. Seiner Ansicht nach bewältigt Deutschland die Krise besser als andere fortgeschrittene Volkswirtschaften.
Ökonom Carstensen will jedoch nicht in Euphorie verfallen. Denn schon im nächsten Jahr werde es eine Delle geben, das BIP-Wachstum werde sich auf 2,0 Prozent einbremsen. Denn die Konjunktur in den USA bleibe schwach: Die Konjunkturprogramme seien ausgelaufen, und der Arbeitsmarkt habe sich noch nicht spürbar erholt. Auch die Lokomotive China könnte an Fahrt verlieren.
"Damit wird die Inlandsnachfrage das Tempo der Expansion bestimmen", schreiben die Autoren der Konjunkturprognose. Das heißt: In erster Linie kommt es auf die Ausgabefreudigkeit der Deutschen an. Und das ist neu. Denn Wachstumszahlen der Vergangenheit speisten sich vor allem aus den Exporten - was schließlich auch international kritisiert worden war.
"Das exportorientierte und auf Lohnzurückhaltung basierende Wirtschaftsmodell hat natürliche Grenzen", warnte erst vor kurzem Raymond Torres von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen. Es bestehe die Gefahr, dass Defizitländer ihr bisheriges Importvolumen nicht auf Dauer aufrechterhalten können.
Zeit für kräftigeLohnerhöhungen
Doch warum sollte sich das nun ändern? "Ich denke, es ist klar, dass der Lohnverzicht der vergangenen Jahre und in der Krise nun honoriert wird", erklärte Carstensen. Allerdings: Sollte sich die Regierung mit ihren Plänen durchsetzen, werden die Beitragssätze zur Arbeitslosen- und Krankenversicherung steigen. Das wiederum schmälert den voraussichtlichen Zuwachs der Löhne.
Getragen wird die Inlandsnachfrage aber freilich auch, so Carstensen, von einer größeren Zahl an Beschäftigten als bisher. Die Zahl der Arbeitslosen wird heuer auf 3,2 Millionen und nächstes Jahr auf 2,9 Millionen sinken. Heinz-Josef Bontrup, Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Gelsenkirchen, ist skeptisch: Er spricht von "vielen prekären Beschäftigungsverhältnissen", die die Statistiken schönen. Carstensen sagt dagegen, es sehe eher so aus, als ob es wieder mehr sozialversicherungspflichtige Jobs geben werde. Viele Arbeitsplätze entfielen allerdings doch auch auf die Zeitarbeiterbranche. Diese verzeichnete im August mit 893.000 Beschäftigten einen neuen Mitarbeiterrekord. Noch heuer könnte die Millionengrenze erreicht werden.
Für Carstensen steht jedenfalls fest: Jetzt ist der Zeitpunkt, um zu sparen. Die Koalition müsse den konjunkturellen Rückenwind nutzen, um den Schuldenberg abzubauen.