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Es liegt nicht am Zinseszins

Von Paul Kellermann

Gastkommentare
Paul Kellermann ist Professor am Institut für Soziologie der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der Alpen-Adria-Universität.

Wie es zum "Wachstumszwang" kommt, von dem immer häufiger die Rede ist, lässt sich ganz einfach erklären.


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Seit Jahrhunderten gibt es Prediger und Predigerinnen, die den Zins und den Zinseszins für das Übel der Welt halten, das den "Kapitalismus" begründete. Zuletzt wurde sogar argumentiert, dieses Übel sei "eine unsichtbare Zerstörungsmaschine" und führe zum "Wachstumszwang" (Regionalgeld-Vordenkerin Margrit Kennedy auf www.taz.de).

Da wird dem Zins zu viel zugetraut. Der Wachstumszwang ist anders zu erklären. Wir leben in einer Gesellschaft, deren Produkte und Dienste (Leistungen) extrem arbeitsteilig entstehen. Was zum normalen Leben gebraucht wird, kann in der Regel niemand mehr selbst herstellen. Das mag man als Nachteil ansehen. Vorteilhaft hingegen ist die Arbeitsteilung, weil die Konzentration der Arbeit auf ein Produkt sowohl mehr Wissen als auch mehr Fertigkeit entwickeln lässt, also produktiver ist. Adam Smith hat das 1776 eindrucksvoll am Beispiel der Nadelproduktion beschrieben. Doch unvermeidbare Folge der starken Arbeitsteilung ist, dass die Leistungen ausgetauscht werden müssen, um verfügbar zu haben, was man zum Leben braucht. Dadurch entstanden Märkte und ein abstraktes Tauschmedium: Geld.

Um dieses Geld als Erwachsener zu erhalten, muss man arbeiten, entweder selbständig oder unselbständig. Wer selbständig arbeitet, kann Helfer gebrauchen, die er als Unselbständige einstellt. Dafür muss er zahlen, muss also sehen, wie er dafür Geld auftreibt. Längerfristig geht das nur, wenn er die gemeinsam erarbeiteten Leistungen auf den Märkten zu einem Preis verkaufen kann, der zumindest die Kosten deckt. Andere Selbständige, Mitbewerber, müssen ebenfalls verkaufen, was bei gleichen Leistungen nur denjenigen erfolgreich sein lässt, der für den Käufer den vorteilhafteren Preis verlangt. Konkurrenz ist die Bezeichnung für eine solche Situation.

Dem Preisdruck kann durch höhere Produktivität der verwendeten Mittel begegnet werden. Produktivitätssteigerung ist auf verschiedene Weise zu erreichen, erfolgt aber zumeist mithilfe technischer Mittel - Hardware wie Software. Entstehen auf diese Weise mehr Waren, muss entweder mehr verkauft oder auf vergleichsweise teurere Arbeitsmittel - sprich Arbeitskräfte - verzichtet werden.

Nicht alle in der Folge freigesetzten Arbeitskräfte verfügen über gleich viel Geld, also Kaufkraft, wie zuvor. Haben sie weniger, können sie weniger kaufen. Wird weniger gekauft, wird weniger produziert - mit der Folge, dass wieder Leute entlassen werden. Dieser Prozess führt zu einer wirtschaftlichen Rezession, also zu verbreiteter Armut. Wenn dies verhindert werden soll, müssen Käufe, Leistungen, Produktivität und Geldumlauf gesteigert werden. Das ist der "Wachstumszwang". Wirtschaftliches Wachstum wird mit dem Index des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausgedrückt. Das BIP entspricht der Gesamtsumme der Bruttoausgaben der Endverbraucher für inländische Leistungen zum Kaufpreis. Kurz: Wirtschaftswachstum wird de facto als Steigerung des Geldumlaufs in der "Realwirtschaft" verstanden. Zinsen und Zinseszinsen spielen dabei eine untergeordnete Rolle.