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Die Politik rächt sich für ihre Kriminalisierung durch den Volksmund ("alles Gauner!") mit der Pathologisierung ihrer Bürger ("alles Opfer!").
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Angeblich soll es ja eine Renaissance der Ideen von Karl Marx und Co geben. Marx neu zu lesen, so bekommt man von aufgeklärter Seite vermehrt zu hören, helfe, den Blick auf die Realitäten zu schärfen.
Ein bisschen mehr Materialismus würde der aktuellen Debatte tatsächlich guttun. Diese ist nämlich am besten Wege, in der Tiefenpsychologisierung von Hobbypsychologen in Grund und Boden therapiert zu werden. Seit einer gefühlten Ewigkeit kommt kein Bericht mehr ohne Abhandlung dieser oder jener Ängste mehr aus. Top sind derzeit: die Angst vor dem Fremden und dem Islam im Allgemeinen sowie der Angst vor dem islamischen Mann im Besonderen.
Des Weiteren finden sich: Angst vor dem Untergang des Abendlands, vor dem Verlust des Jobs, Angst vor der Rückkehr des Faschismus, dem Klimawandel, gescheiterter Integration und der umfassenden Überwachung. Und über all dem schwebt - quasi als Überbau - wahlweise die Furcht vor Globalisierung und Neoliberalismus oder eben vor Brüsseler Zentralismus und dem Verlust traditioneller Identitäten jedweder Art.
Und es versteht sich von selbst, dass man all diesen Ängsten im Einzelfall nachspüren und ihre tieferen Ursachen offenlegen muss. Für etwas müssen Journalisten und Sozialwissenschafter schließlich gut sein. Schließlich gehört es zum guten Ton aufgeklärter Politik im 21. Jahrhundert, dem Untertan - jetzt bildlich gesprochen - tief in die Augen und anschließend bis in die letzten Abgründe seines Innenlebens zu blicken. Oder anders formuliert: Die Politik rächt sich für ihre Kriminalisierung durch den Volksmund ("alles Gauner!") mit der Pathologisierung ihrer Bürger ("alles Opfer!"). Unnötig zu sagen, dass die Medien, getreu ihrem Ruf als verlässliche Vermittler zwischen diesen Welten, beide Unterfangen nach Möglichkeiten unterstützen.
Schwer zu sagen, wann dieser Hang zur Seelenerforschung aufseiten der Politik eingesetzt hat. Zu vermuten ist, dass es einen direkten Zusammenhang mit dem gefühlten (und teilweise auch realen) Gestaltungsverlust nationaler Politik gibt. Politisches Händchenhalten als Fluchtweg aus dem Zustand des Nicht-mehr-gebraucht-Werdens quasi. Lange, diese Prognose darf durchaus gewagt werden, halten das beide Seiten nicht mehr aus. Und die Medien übrigens auch nicht.
Dabei ist Rettung durchaus möglich. Die Politik müsste sich dabei nur von ihrem Blick auf das unendlich große und komplizierte Ganze auf die kleineren Fragen darunter konzentrieren. Dann wäre ganz plötzlich wieder sehr viel realer Gestaltungsraum zurückerobert - und das gilt für sämtliche aktuellen Themen von der Bewältigung der Flüchtlingsfrage über die Vereinfachung der Arbeitsmarktregeln bis hin zu Ideen zur Belebung der Konjunktur. Und noch in unzähligen weiteren Bereichen.
Zur Überraschung vieler ist konkrete Politik immer noch möglich. Man muss mögliche Folgen nur zuerst durchdenken und dann die Pläne auch umsetzen. Und die einzig relevante Richtschnur bei all dem sollten nicht irgendwelche diffusen Ängste, sondern nachweisbare Interessen sein. Ein bisschen mehr Materialismus würde 26 Jahre nach dem offziellen Ende des Eisernen Vorhangs nicht schaden.