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Das kurdische Unabhängigkeitsreferendum verschärft den Konflikt zwischen den Volksgruppen im Irak.
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Kirkuk. Nicht lange nach Schließung der Wahllokale am Montagabend stand auch schon die Wahlbeteiligung fest: Fast 80 Prozent sollen es gewesen sein, die beim Referendum über die Unabhängigkeit Kurdistans abgestimmt haben. "Das ist blanker Hohn", kommentiert die Herrenrunde die von der kurdischen Regionalregierung in Erbil veröffentlichte Zahl. "Da haben die sich nur selbst gezählt und uns ignoriert." Es habe massive Wahlfälschung stattgefunden. Die Männer im Hauptquartier der turkmenischen Partei "Türkmeneli" in Kirkuk sind empört. Turkmenen und Araber haben die Wahl boykottiert. Im Westen und Süden Kirkuks, wo sie mehrheitlich wohnen, blieben die Wahllokale leer. Im Norden und Osten, wo die Kurden wohnen, herrschte dagegen reges Treiben. Als die Ausgangssperre nach Schließung der Wahllokale ausgerufen wurde, trauten sich nur noch die Kurden in ihren Vierteln auf die Straßen. Die anderen blieben bis zum Morgengrauen in ihren vier Wänden. Fast schon konspirativ versammelten sich einige Turkmenen in der Innenstadt, um über die Lage in Kirkuk zu beraten.
Bis zum Schluss hatten die Turkmenen gehofft, Masud Barzani sei einsichtig und würde doch noch das Referendum abblasen, vor allem in Kirkuk. Seine Absicht, über eine Unabhängigkeit vom Restirak abstimmen zu lassen, stieß überall auf Widerstand. Die Nachbarn Iran und Türkei waren dagegen, die USA und Europa ebenso - und vor allem Bagdad. Selbst aus den eigenen, kurdischen Reihen kam Kritik an dem Vorhaben. Buchstäblich in letzter Minute konnte Barzani die Patriotische Union Kurdistans (PUK), die Partei seines Rivalen und ehemaligen irakischen Präsidenten Dschalal Talabani zum Mitmachen überzeugen. Dabei ging es nicht so sehr um die vier kurdischen Provinzen Erbil, Dohuk, Suleimanija und Halabja im Nordosten, die ohnehin bereits eine weitgehende Unabhängigkeit erreicht haben. Es ging vor allem um Kirkuk, wo das meiste Öl gepumpt wird und das bis zum Blitzkrieg des IS im Sommer 2014 unter der Kontrolle Bagdads stand. Seitdem kontrollieren die Peschmerga die Stadt. Für ihren Einsatz gegen die Terrormiliz fordern die Kurden, nun Kirkuk unter ihre Hoheit zu stellen.
"Sie tun so, als gäbe es uns nicht", sagt Hassan Turan über das Verhältnis Kurden-Turkmenen und hängt ständig am Telefon. Die Drähte laufen heiß. Der kleine Turkmene mit lichtem Oberhaar und ergrautem Schnauzbart gehört der "Turkmenischen Front" an und sitzt für Kirkuk im irakischen Parlament in Bagdad. Von dort bekommt er unzählige Anrufe, denn seine Abgeordnetenkollegen haben gerade beschlossen, dass Premierminister Haidar al-Abadi Truppen der irakischen Armee nach Kirkuk schicken soll, um den Anspruch Bagdads auf die Stadt zu verdeutlichen und den Kurden zu zeigen, wer der eigentliche Herr im Hause ist. Turan sagt, dass Turkmenen, Araber und Kurden jeweils ein Drittel der eine Million Einwohner Kirkuks ausmachen, ein Prozent seien Christen.
Wer ist die Mehrheit?
Die Kurden behaupten, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Genau weiß das niemand. Eine Volkszählung liegt Jahre zurück. Da Kirkuk mittlerweile von den kurdischen Peschmerga kontrolliert wird, würde ein Eingreifen der irakischen Armee unweigerlich eine Konfrontation zwischen den beiden Sicherheitskräften bedeuten. Es riecht nach Bürgerkrieg in Kirkuk.
Konfrontation statt Koexistenz
Das Verhältnis zwischen Kurden und Turkmenen habe sich seit dem Einmarsch des IS im Irak dramatisch verschlechtert, antwortet der Parlamentarier auf die Frage nach dem Zusammenleben in der multi-ethnischen Stadt. In einem früheren Gespräch sprach er von Einvernehmen und friedlicher Koexistenz zwischen den beiden Volksgruppen, die jede für sich beansprucht, am längsten in Kirkuk wohnhaft zu sein. "Das ist jetzt vorbei, wir sind auf Konfrontation", sagt Hassan Turan. Nachdem die Peschmerga die Stadt gegen den IS verteidigte und die Terrormiliz buchstäblich vor den Toren zurückdrängte, sei es aus mit dem Dialog zwischen den hier lebenden Volksgruppen. Selbst der jetzige irakische Präsident Fuad Masum, ein Kurde, verweigerte das Begehren seiner türkischstämmigen Landsleute, über die Probleme in Kirkuk zu sprechen. Denn als der kurdische Gouverneur vor sechs Monaten die kurdische Flagge auf der alten Zitadelle Kirkuks hissen ließ, kochte die turkmenische Volksseele. "Masum sollte eigentlich für uns alle da sein, aber er ist in erster Linie Kurde", so Turan. Der Oberste Gerichtshof Iraks hat das Hissen der kurdischen Flagge auf öffentlichen Gebäuden in Kirkuk als nicht verfassungsmäßig bezeichnet. Doch die Flagge hängt auch heute noch. Die kurdische Administration in Kirkuk schere sich einen Dreck um Bagdad. So seien mit der Zeit alle wichtigen Posten in der Stadt und in der Provinz an Kurden vergeben worden. "Wenn immer eine Stelle, die von Arabern oder Turkmenen besetzt ist, frei wird, rücken Kurden nach." Während vor dem IS die Stellen paritätisch besetzt waren, haben die Kurden längst übernommen. Der Provinzrat besteht aus 26 Kurden, neun Turkmenen und sechs Arabern.
Der Konflikt zwischen Kurden und Turkmenen in Kirkuk spielt sich inzwischen nicht nur auf politischer Ebene ab. Am Tag des Referendums gab es Zusammenstöße zwischen Vertretern beider Volksgruppen. Die Versammelten hoffen auf die Hilfe von Bagdad, aber auch der Türkei, die versprochen habe, fest an ihrer Seite zu stehen. Der türkische Präsident Erdogan probt gerade den Schulterschluss mit seinem Kollegen Abadi und lässt gemeinsame Militärmanöver an der Grenze zum Irak abhalten. Außerdem droht er, Barzani den Ölhahn zuzudrehen. Die kurdische Regionalregierung schickt das auf ihrem Territorium geförderte Öl durch eine Pipeline in den türkischen Hafen Ceyhan.
"Es geht um Kirkuk"
Eine positive Wendung hat der Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen für die Turkmenen jedoch schon bewirkt: Sie sind näher zusammengerückt, ihre Zersplitterung ist aufgehoben. Nachdem acht unterschiedliche turkmenische Parteien bei den letzten Wahlen vor vier Jahren oft gegeneinander gekämpft haben, sitzen sie jetzt gemeinsam bei "Türkmeneli" im Büro. Die Turkmenen bezeichnen ihr Siedlungsgebiet im Nordirak als Türkmeneli - Land der Turkmenen. In ganz Irak gibt es etwa zwei Millionen von ihnen. "Es geht um unsere Zukunft als Turkmenen", sagen sie, "es geht um Kirkuk." Dass damit die Konfrontation zwischen den Volksgruppen im Irak weiter verstärkt wird, liegt auf der Hand.