Wenn die Wirtschaft langfristig stagniert, braucht es Wohlstandsdenken jenseits vom Wachstum und Ressourcenverbrauch - doch in Österreich wird jährlich eine Fläche so groß wie Salzburg verbaut.
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Wien. Die"Wie geht’s?"-Frage gilt weltweit als Standarderöffnung jeder Begegnung, die Antworten unterliegen aber kulturellen Unterschieden. In den USA wird den Grüßern gern ein begeistertes "Great" entgegengeschrien, in Frankreich ist das nüchterne "Ça va" üblich, in Wien mitunter das "Ich kann nicht klagen". Wobei in diesem Fall oft unklar ist, ob dieser Zustand nicht in Wahrheit als Ärgernis empfunden wird.
Die Statistik Austria stellt ebenfalls diese Frage, und sie stellt sie ganz Österreich. Wie geht es also Österreich? Nun, gar nicht einmal so schlecht, wie die Ergebnisse offenbaren, vor allem eingedenk der Krise. "Die subjektive Selbsteinschätzung ist überraschend auf hohem Niveau", sagt Konrad Pesendorfer, Generaldirektor der Statistikbehörde. Zumal die Österreicher, so besagt es ein Klischee, dem Raunzen leidenschaftlich zugetan sind.
Doch vielleicht muss dieses Klischee neu gedacht werden. Trotz schlechter Wirtschaftsdaten ist das subjektive Wohlbefinden der Österreicherinnen und Österreicher vorhanden. Die durchschnittliche Zufriedenheit beträgt auf einer zehnteiligen Skala 7,8. Da es heuer eine andere, EU-weite Berechnungsmethode gibt, wäre ein Vergleich mit dem Vorjahr nicht seriös, dafür wird es im Frühjahr erstmals vergleichbare Daten aus ganz Europa geben. Gut möglich, dass Österreich in der Selbsteinschätzung gut abschneiden wird, wie aus anderen Studien zu lesen ist.
So hat die UNO im Vorjahr ihren aktuellen "Happiness Report" präsentiert, in dem Österreich auf Platz acht liegt, weit vor Deutschland, das hinter Brasilien und Venezuela nur an 26. Stelle gereiht wurde. In diesem Ranking wird das Bruttoinlandsprodukt durch Faktoren wie Lebenserwartung, Wahlfreiheiten und Großzügigkeit ergänzt. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen die Neos, die vor rund zwei Monaten einen Wohlstandsindikator namens "NeuWind" vorgestellt haben. Auch bei diesem ist der Kern der Überlegung, die bisherige Maßgröße, das BIP, durch andere Faktoren zu erweitern, im konkreten Fall durch Sozialausgaben, der Fruchtbarkeitsrate oder der Erwerbsquote.
Für Stefan Schleicher, Ökonom der Uni Graz und Konsulent am Wirtschaftsforschungsinstitut, ist diese Debatte "extrem wichtig", wie er sagt. "Die Höhe des Einkommens bestimmt nur zum Teil unser Wohlstandseinkommen." Liegen die Energiekosten bei 5 oder bei 30 Euro pro Quadratmeter? Bin ich auf ein Auto angewiesen? Auf eine Pflegekraft oder kann ein Nachbar helfen? Diese Fragen sind vor allem im Hinblick auf die langfristige Entwicklung der heimischen Wirtschaft wesentlich. Zwar hat die Politik die Hoffnung auf ein Anspringen der Konjunktur nicht aufgegeben, doch mittlerweile mehren sich die Stimmen, die Europa und Österreich eine langfristige Stagnation voraussagen. Für dieses Szenario braucht es ein anderes Denken.
Das BIP als Hindernis
"Man muss etwa die Empfehlungen bei der Pensionsvorsorge neu bewerten. Das Ansparen wird nicht funktionieren, wenn die Inflation jede Verzinsung auffrisst, daher ist es relevanter, ein Lebensumfeld zu schaffen, in dem es wenige Ausgaben gibt, für Energie oder Zwangsmobilität, man aber trotzdem gut lebt", erklärt Schleicher.
Das BIP als einzige Maßgröße kann aus dieser Perspektive sogar ein Hindernis sein. Wenn die Menschen mehr mit dem Auto fahren, geben sie mehr für Benzin aus, daher steigt das BIP. Wohlstandserhöhend ist das aber nicht, eher im Gegenteil, denn es schädigt die Umwelt und betrifft die Staatsfinanzen, wenn etwa die Republik CO2-Zertifikate kaufen muss. "Die Pendlerpauschale ist da völlig kontraproduktiv", sagt Schleicher.
Die Statistik Austria hat bei ihrer Arbeit 30 Indikatoren in den Bereichen Wohlstand, Lebensqualität und Umwelt definiert, es fließen sowohl objektive Daten wie Ergebnisse aus subjektiven Erhebungen ein. In diesem Jahr haben sich die Statistiker vor allem mit der Umwelt auseinandergesetzt.
Pesendorfer lieferte dabei eine beachtliche Zahl bei der Flächenverbauung, die seit Jahren unaufhörlich steigt. Jeden Tag wird eine Fläche von 31 Fußballfeldern versiegelt oder jährlich die Stadt Salzburg. Angesichts der fortschreitenden Zersiedelung verwundert es auch nicht, dass eine überproportionale Steigerung des Energieverbrauchs im Verkehr seit 1995 von 48,8 Prozent verzeichnet wurde.
Wohlstand ungleich Wachstum
Die Regierung begegnet dieser Entwicklung insofern, als das Thema ins Regierungsprogramm aufgenommen wurde. Raumordnung ist allerdings Länder- und Gemeindesache. Laut Ministerium sollen finanzielle Anreize für die effizientere Flächennutzung geschaffen und Freiräume geschützt werden. Das wäre nicht unbedingt wachstums-, aber eventuell wohlstandsfördernd.
In Deutschland hat der Bundestag vor zwei Jahren eine Enquete-Kommission eingesetzt, um die Frage von Wohlstand und Wachstum nicht nur zu diskutieren, sondern eventuell auch neu zu definieren. Letzteres ist dann allerdings nicht passiert, wie Ulrich Brand, Mitglied der Kommission und Professor für internationale Politik an der Universität Wien, sagt. "Es ist aber das Terrain bereitet worden für eine mittelfristige Weiterentwicklung."
Brand sieht Wohlstand und Wachstum nicht mehr im Gleichklang: "In der Nachkriegszeit war das Wachstum ein Stabilitätsfaktor, heute ist es eher ein Destabilisator." Auch die Zahlen der Statistiker, die von der wachsenden Kluft bei Vermögens- und Einkommensverteilung künden, können als Argument betrachtet werden. Politikwissenschafter Ulrich Brand: "Ressourcenkonflikte, Polarisierungen und Burn-out-Erkrankungen nehmen zu, daher brauchen wir ein anderes Wohlstandsdenken." Dass die Österreicher in ihrem subjektiven Empfinden offenbar zufriedener sind, als die Wirtschaftsdaten glauben lassen, wirft die Frage auf: Definieren die Menschen den Wohlstandsbegriff schon anderes als die Politik.