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"Es war klar, dass es Widerstand gibt"

Von Thomas Seifert aus Charkiw

Politik

Sicherheitsexpertin Maria Avdeeva über Charkiw und warum es Russland nicht gelungen ist, ihre Heimatstadt einzunehmen.


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Maria Avdeeva steht vor der Fassade der völlig zerstörten Fakultät der Wirtschaftsuniversität Charkiw und zeigt die Zerstörung ihrer Stadt. Sie spricht schnell, formuliert präzise und hat einen klaren Blick auf die schwierige Lage, in der ihre Heimatstadt sich weiter befindet. Avdeeva ist Direktorin der European Expert Association und Expertin für Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit der Ukraine mit EU und Nato. Während der russischen Offensive veröffentlichte sie regelmäßig Videos aus Charkiw auf Twitter.

"Wiener Zeitung": Sie sind während der russischen Offensive auf Charkiw in der Stadt geblieben. Warum?

Maria Avdeeva: Ich bin alleine schon aus einem Grund hiergeblieben: In den russischen Staatsmedien wurde behauptet, die Armee der Russischen Föderation hätte bereits die Kontrolle über die Stadt erlangt. Das war aber nie der Fall, die russischen Truppen sind nie bis ins Zentrum vorgestoßen, sondern sind lediglich bis in die Außenbezirke im Norden und Nordosten von Charkiw vorgedrungen. Ich habe dann begonnen, täglich Bulletins auf meinem Twitter-Account abzusetzen. Darin habe ich darüber berichtet, dass Charkiw von der ukrainischen Armee verteidigt wird, ich wollte zeigen, dass die Stadt sich wehrt und wollte auch die Kriegsverbrechen, die von der russischen Armee in meiner Heimatstadt begangen werden, zeigen.

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Charkiw war ja bereits im Jahr 2014, als Russland Teile des Donbass und der Krim annektierte, im Fadenkreuz Moskaus.

Richtig. Damals haben russische Truppen Territorium in den Oblasten Luhansk und Donezk besetzt. Zur selben Zeit hat Russland Leute mit Bussen aus der nahegelegenen russischen Stadt Belgorod herangekarrt, die dann einige Gebäude besetzt hatten. Ich kann mich erinnern, wie diese Leute damals russische Fahnen an einigen Häusern gehisst haben - sie ließen verlauten, dass sie eine Volksrepublik Charkiw errichten wollen - ganz nach dem Vorbild von Donezk und Luhansk. Das hat aber nicht funktioniert, die Bürgerinnen und Bürger von Charkiw haben Widerstand geleistet, und es ist rasch gelungen, die Leute aus den Gebäuden und aus der Stadt zu vertreiben. Russland hat aber immer wieder versucht, die Kontrolle über Charkiw zu bekommen oder Einfluss auf das öffentliche Leben hier zu nehmen. Jahrelang hat Russland es mit Soft Power versucht; im Februar 2022 hat Moskau dann eben zu militärischen Mitteln gegriffen. Charkiw ist ja eine Stadt, in der die meisten Menschen russisch sprechen, die russische Grenze ist nicht weit.

Warum sollte im Jahr 2022 funktionieren, was im Jahr 2014 nicht funktioniert hat?

Eine berechtigte Frage. Während der acht Jahre Krieg im Donbass haben die Menschen begriffen, was in Donezk und Luhansk passiert ist, nachdem Russland Teile dieser Oblaste besetzt hat. Vor dem russischen Angriff waren das lebendige Orte - es gab Arbeitsplätze, und an den Universitäten wurde gelernt. Heute ist der Landstrich ein Niemandsland, in dem nichts mehr funktioniert. Die Menschen in Charkiw haben das genau mitverfolgt. Dass Charkiw nun auch zu einem solchen No-Man’s- Land wird, wollte hier niemand. Mit dem ersten Donnergrollen, mit dem sich der russische Angriff ankündigte, war völlig klar, dass es Widerstand gibt. Das haben die Befehlshaber und die Führungsfiguren in Moskau völlig falsch eingeschätzt. Aber die Menschen in Charkiw haben Kinder, sie haben Familien, Wohnungen, Häuser, Unternehmen, Jobs. Wer will schon das alles verlieren und zulassen, dass Charkiw unter russische Kontrolle gerät? Alles, was die Menschen in Charkiw wollen, ist, dass die russischen Soldaten nach Hause zurückgehen.

Sie sagten es schon, Charkiw liegt sehr nahe an der russischen Grenze.

Die Menschen in Charkiw hatten traditionellerweise enge Kontakte zu Russland - seien es familiäre Kontakte oder auch Freundschaften. Charkiw ist voller Geschichten über Menschen, die beim Ausbruch des Krieges ihre Verwandten oder Freunde in Russland angerufen haben, um ihnen zu erzählen, was in der Stadt vor sich geht. Doch die Menschen in Russland haben den Ukrainerinnen und Ukrainern dann gesagt, das sei alles die Schuld ihrer Nazi-Regierung, die Toten, die man in Bucha gesehen hat, seien bloß Schauspieler gewesen, blablabla. Unfassbar. All das ist das Ergebnis der russischen Propaganda. Heute ist es sehr schwer, zu Menschen in Russland vorzudringen und bei ihnen Gehör zu finden. Die Leute in Russland sind derart gehirngewaschen, sie wollen freiwillig in dieser George-Orwell-Propaganda-Welt leben, die Wladimir Putin für sie geschaffen hat.

Wie würden Sie jemandem, der Charkiw nicht kennt, die Stadt beschreiben?

Charkiw ist eine sehr junge Stadt, es gibt hier mehr Universitäten als in jeder anderen Stadt der Ukraine. Hier in der Innenstadt wimmelt es normalerweise vor Studenten, die Bars und Cafés wären jetzt schon voll, Charkiw war ja bis vor ein paar Monaten ein wahres Hipster-Paradies. Charkiw wurde immer als das Silicon Valley der Ukraine beschrieben, sehr viele IT-Unternehmen haben hier ihren Sitz. Ich hoffe, dass das bunte Leben bald wieder hierher zurückkehrt.

Nun sieht es so aus, als sei es der ukrainischen Armee gelungen, die Russische Armee zurückzudrängen. Wie wird es nun weitergehen?

Seit Beginn des Krieges hat Russland die selbst gesteckten Ziele nie erreicht. Moskau hat es nicht vermocht, größere ukrainische Städte einzunehmen. Bei den Städten, bei denen die russische Armee es geschafft hat, sie unter ihre Kontrolle zu bringen, haben sie das nur geschafft, indem sie sie vom Antlitz der Erde getilgt haben - denken Sie etwa an Mariupol. Die politische Führung in Moskau braucht aber jetzt langsam etwas, das wie ein Erfolg aussieht. Also haben Sie nun die Schlacht um den Donbass eröffnet und versuchen dort so viel Territorium zu erobern, wie nur möglich. Charkiw bleibt aber - das ist meine Befürchtung - im Fadenkreuz der russischen Armee. Nicht unmittelbar - aber nach der Offensive im Donbass werden die Truppen der Russischen Föderation wieder versuchen, nach Charkiw vorzustoßen. Russland hat bereits wieder Truppen in Belgorod zusammengezogen. Bald könnten sie versuchen, von dort wieder anzugreifen. Charkiw muss sich leider darauf einstellen, Frontstadt zu sein und man wird hier damit leben müssen, dass Charkiw längere Zeit Kriegsgebiet sein wird.

Gibt es einen Ausweg?

Natürlich sind die Wirtschaftssanktionen wichtig, um Russland in die Schranken zu weisen. Aber diese Auswirkungen wird man dort erst mittel- bis langfristig spüren. Nachdem wir Zeugen davon wurden, was in Bucha, Irpin und in anderen Städten passiert ist, wissen wir, dass Russland bereits alle roten Linien überschritten hat. Das Ziel Russlands ist heute die Eliminierung der ukrainischen Nation. Die Ukraine wird daher die Waffen nicht niederlegen.

Maria Avdeeva ist Gründerin der European Experts Association. Vor dem 24. Februar 2022 hat sie zum Thema russischer Desinformation geforscht. Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf breiter Front bietet sie via ihrem Twitter-Kanal Einblicke in das Leben von Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, die wochenlang von russischer Artillerie beschossen und aus der Luft bombardiert wurde.