Zum Hauptinhalt springen

"Es war unerträglich heiß und roch nach Blut"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Holzer

Politik

Racheaktion der Résistance 1944: Ein Ex-Widerstandskämpfer bricht jetzt das Schweigen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Er ist der letzte Überlebende, der bei jenen schrecklichen Ereignissen am 12. Juni 1944 dabei war. Der letzte Augen- und Zeitzeuge, der von der Erschießung von 47 Wehrmachtssoldaten und einer Französin durch französische Widerstandskämpfer in der südwestfranzösischen Gemeinde Meyrac erzählen konnte, 79 Jahre danach. "Die Wahrheit musste endlich ans Licht kommen", sagt der 98-jährige Edmond Réveil heute und wirkt dabei erleichtert.

Die Enthüllungen, die zuerst die Zeitung "Le Parisien" veröffentlichte und seither weitere französische Medien aufgriffen, werfen ein neues Licht auf die Résistance im Zweiten Weltkrieg. Réveil spricht heute von einem "Fehler", den sie gemacht hätten.

Er engagierte sich als junger Mann in der Widerstandsbewegung gegen die deutschen Besatzer, mit denen das Vichy-Regime kollaborierte. Auf die Nachricht der Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 an den Küsten der Normandie hin griff seine Gruppe das von den Deutschen kontrollierte Tulle, die Hauptstadt des Departements Corrèze, an und nahm 55 deutsche Soldaten und Mitglieder der Gestapo sowie eine 20-jährige Französin als Kollaborateurin fest.

Lange ein Geheimnis

Doch die Überwachung der Gefangenen gestaltete sich schwierig, es fehlte an einem geeigneten Ort und Proviant. Vier Tage lang marschierten sie von Tulle aus ins 70 Kilometer entfernte Meyrac. Dort erreichte sie der Befehl des Generals Pierre Koenig, die deutschen Soldaten sowie die junge Frau zu erschießen. Aussortiert wurden lediglich jene Männer, die nicht deutscher Herkunft waren.

"Unser Kommandant Rivière kündigte die Tötung unter Tränen jedem Einzelnen an, weil er als Elsässer sehr gut Deutsch sprach", erinnert sich Réveil. Er selbst gehörte zu einer kleinen Gruppe aus vier oder fünf Männern, die sich nicht aktiv an der Erschießung der Gefangenen beteiligten und lediglich zusahen. "Es war unerträglich heiß und roch nach Blut", erzählt er. Die Getöteten fielen in ein Loch, das sie selbst ausgegraben hatten. "Uns fehlte das Bewusstsein für das, was wir da taten. Wir waren zu jung", sagt Réveil nun. Kriegsgefangene zu erschießen sei nicht rechtens. "Wir sprachen nie wieder darüber. Es war ein Geheimnis." Vor drei Jahren berichtete er zum ersten Mal bei einem Treffen der Nationalen Vereinigung ehemaliger Widerstandskämpfer über die Vorfälle, doch nichts geriet damals an die Öffentlichkeit.

Dem Historiker Fabrice Grenard zufolge wusste man durchaus von der Erschießung deutscher Soldaten im Juni 1944 durch französische Widerstandskämpfer an verschiedenen Orten in Frankreich. "Aber die Details darüber, wo genau sie stattfanden und wie viele es waren, kannte man nicht."

Elf Körper waren in den vergangenen Jahren bereits gefunden worden. Am Dienstag den 27. Juni begann die Suche mit einem Bodenradar, um das mutmaßliche Massengrab zu lokalisieren.

Im Anschluss soll die Auswertung mehrere Wochen dauern. Erst dann wird entschieden, wann und wo gegraben werde. Sollten die einstigen deutschen Soldaten gefunden werden, so wird laut dem französischen Verteidigungsministerium der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge deren Exhumierung und Beisetzung auf einem deutschen Soldatenfriedhof veranlassen. "Ich habe immer an die Familien gedacht, an die Mütter, Frauen, Kinder", sagt Réveil. "Sie müssen doch wissen, was passiert ist." Deshalb ging er nun endlich an die Öffentlichkeit mit seiner Erzählung.

Barbarei der Nazis

Dem Spezialisten Grenard zufolge sind die Hinrichtungen in den damaligen Kontext einzuordnen. Unmittelbar nach dem Sturm auf Tulle durch Mitglieder der französischen Résistance-Bewegung erlangte die SS-Panzer-Division "Das Reich" die Kontrolle zurück, ermordete alle Männer vor Ort, hängte 99 Leichen in der ganzen Stadt auf und deportierte 145 weitere Personen. Am 10. Juni löschten deutsche Soldaten beim Massaker von Oradour-sur-Glane gut 100 Kilometer nordwestlich von Tulle das Dorf fast vollständig aus. Die dortigen Ruinen gelten bis heute als Mahnmal für die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Barbarei der Nazis.

Gerade veröffentlichte der Ort einen Spendenaufruf zu seiner Erhaltung und Renovierung der Kirche, in der hunderte Menschen, darunter überwiegend Frauen und Kinder, verbrannt worden waren.

Mit 643 Opfern handelte es sich zahlenmäßig um das verheerendste Massaker in Frankreich und in Westeuropa. Am 11. Februar dieses Jahres ist der letzte Überlebende, Robert Hébras, im Alter von 97 Jahren gestorben. Er führte 2013 den damaligen französischen Präsidenten François Hollande und Joachim Gauck als ersten deutschen Bundespräsidenten, der diesen erschütternden Ort besuchte, durch die Ruinen von Oradour-sur-Glane.