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Es wird ernst mit den "Nachprüfungen"

Von Dominik Gries

Politik

Nächste Woche beginnen die Wiederholungsprüfungen in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland. Bundesweit haben rund 40.000 Schülerinnen und Schüler ein oder mehrere "Nicht Genügend" und treten zu den Prüfungen an, um die Klasse nicht wiederholen zu müssen. Während Schülervertretung und Arbeiterkammer die Bildungspolitik von Ministerin Gehrer verantwortlich für den Misserfolg der Schüler machen, sieht das Ministerium keinen Handlungsbedarf: Das sogenannte "Frühwarnsystem" funktioniere ausgezeichnet.


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"Ich lerne seit Anfang August jeden Tag vier Stunden", erzählt Kerstin, während sie sich auf den Unterricht mit dem Nachhilfelehrer vorbereitet. Ursachen für schulischen Misserfolg sieht sie neben individueller Faulheit, falscher Schulwahl oder "beschissenen" Lehrern vor allem im Schulsystem. Das vielgelobte Frühwarnsystem bringt ihrer Meinung nach jedenfalls nichts. Viele Lehrer könnten einfach nicht unterrichten, meint Christina, aber sie seien pragmatisiert - und allfällige Verfahren gegen sie würden eingestellt. Bei einer Schularbeit in ihrer Klasse konnten vier Schüler gerade noch ein Genügend erreichen - alle anderen fassten einen "Fleck" aus. "Alle in meiner Klasse werden nicht dumm sein", spielt die Schülerin den Ball dem verantwortlichen Lehrer zu. Einen guten Lehrer mache es aus, zu motivieren, Freude an seinem Fach zu vermitteln. Dem kann der Nachhilfelehrer Claus Bögle nur zustimmen. Er muss mit seinen Schülern oft das nachholen, wozu die Kollegen in den Schulen nicht mehr kommen: "Nicht alle Pädagogen tragen ihren Namen zu Recht", ätzt der Mathematiker. Manche Kollegen hätten ihren Job einfach aus "falschem Verständnis" heraus gewählt. Analog zu Deutschland wünscht sich Bögle in höheren Schulen ein System mit Pflicht- und Wahlfächern. Erste Ansätze dazu, also Schulen mit bildnerischem, musischem oder sportlichem Schwerpunkt gebe es ja bereits. "Man kann einfach nicht an allem interessiert sein", ergänzt Christina.

Knackpunkt Klassenschüleranzahl

AHS-Lehrergewerkschafter Helmut Jantschitsch sieht beim Thema Misserfolg in der Schule naturgemäß einiges anders: Er sei zwar dafür, "schwarze Schafe aus dem System zu entfernen", bei den Nachprüfungen würde das aber kaum etwas bewegen. Außerdem liege ein Defizit bei der Unterrichtsqualität nicht immer an den Lehrern. "Es ist ein sagenhafter Unterschied, ob ich 16 oder 32 Schüler unterrichte - ich bleibe aber trotzdem der selbe Lehrer". In der Schweiz seien die Klassenschülerzahlen um fünf bis zehn Jugendliche geringer. Und die Förderung Einzelner mit besonderen Schwierigkeiten bliebe sowieso auf der Strecke, "wenn ich die fünf mit Problemen betreue und die 23 anderen sich in der Zwischenzeit fadisieren". In einen Sprachkurs mit 30 Lernenden würde man sich schließlich auch nicht einschreiben, obwohl es sich da meist um motivierte Erwachsene handle. Vom Frühwarnsystem zeigt sich der Christgewerkschafter begeistert und ernüchtert zugleich: So werde zwar "unglaublich viel Zeit und pädagogische Energie" in das System gesteckt, und die Zahl der Fünfer konnte tatsächlich gesenkt werden. Viele Eltern würden die mit der Frühwarnung verbundene Einladung zu einem Gespräch aber nicht wahrnehmen - und zwingen könne man sie ja nicht. Hier gelte es zu sensibilisieren.

Jantschitsch ist "absolut" für kostenlose Nachhilfe in den Ferien, um auch sozial schwächeren Schülern die Möglichkeit zu geben, Lernstoff aufzuholen und die Wiederholungsprüfungen zu schaffen. Dass Lehrer diese Dienstleistungen im Rahmen ihrer normalen Lehrverpflichtung unbezahlt und zusätzlich leisten, ist für Jantschitsch natürlich ausgeschlossen. Gut vorstellen kann er sich aber, die vielen Teilzeit-Junglehrer und Lehramtsstudenten auf Kosten der öffentlichen Hand in den Schulen Nachhilfe geben zu lassen. Grundsätzlich seien die Zahlen von Repetenten und Schülern mit Wiederholungsprüfungen "sicher kein Versagen des Systems", ist für den Gewerkschafter klar.

"Nachhilfebörse" von Schülern für Schüler

Der Wiener AHS-Landesschulsprecher Martin Binder als oberster "Personalvertreter" der Wiener Gymnasiasten spricht hingegen von einer "bildungspolitischen Bankrotterklärung", wenn jedes Jahr zigtausende SchülerInnen eine Nachprüfung hätten "und das Ministerium keinen Handlungsbedarf sieht, um diesen Zustand zu ändern". Scharfe Kritik übt er an VP-Ressortchefin Elisabeth Gehrer: Die Ministerin sei offenbar hilf- und ideenlos und gebe "sinnlose Platitüden" von sich. Kern des Problems sei nach Meinung des Schülervertreters vor allem, dass sich viele Betroffene teure Nachhilfestunden nicht leisten könnten. "Es ist daher notwendig, ein Fördersystem zu etablieren, das auch sozial Schwächeren die Möglichkeit der Nachhilfe bietet."

Die Wiener Landesschülervertretung versucht nun, für Ministerium und Stadtschulrat einzuspringen, um diese Lücke zu füllen, und in Kooperation mit der Aktion Kritischer SchülerInnen (AKS) eine Nachhilfebörse einzurichten. Dabei können Schüler, die sich ein zusätzliches Taschengeld verdienen möchten, ihren Kollegen Nachhilfe geben. Das Projekt fungiert als Schnittstelle und soll außerdem Räumlichkeiten und Infrastruktur zur Verfügung stellen. "Wir werden nach Beginn des Schuljahres darüber informieren, das Konzept besteht bereits." Ironischer Nachsatz des Schülerpolitikers: "Wer heute an der Bildung spart, hat morgen noch dümmere Politiker!"

"Schule muss mehr fördern statt auslesen", meint auch der Präsident der Arbeiterkammer (AK), Herbert Tumpel. Die AK-Konsumentenschützer haben die Kosten von Nachhilfe erhoben: In der Kleingruppe kostet eine Sprachstunde bis zu 720 Schilling, Einzelunterricht kommt gar auf bis zu 930 Schilling pro Stunde (Näheres im Internet unter www.akwien.at/konsumentenschutz). Die Kammer rät jedenfalls zu Preisvergleichen, bevor man sich für ein Institut entscheidet.

Ein öffentliches Schulsystem, das ein derart teures privates Nachhilfesystem zulasse, sei sozial selektiv. "Dieser Entwicklung sehen wir mit Sorge entgegen", meint Tumpel. Nachhilfe müsse auch für Kinder aus einkommensschwachen Familien möglich sein.

Kostenlose Nachhilfe?

Tumpel diagnostiziert ständig steigende Repetentenquoten (und befindet sich da nur im scheinbaren Widerspruch zu Lehrergewerkschafter Jantschitsch, der die Zahl der "Fünfer" im Sinken sieht - nicht alle Schüler mit Wiederholungsprüfungen müssen die Klasse ja dann auch wirklich wiederholen). In manchen Klassen, so Tumpel, nehme mehr als die Hälfte der Schüler das ganze Jahr über Nachhilfe in einem Gegenstand. Die AK fordert automatisches Aufsteigen mit nur einem Nicht Genügend. "Wer in 12 von 13 Fächern eine positive Note hat, soll nicht sitzen bleiben müssen", meint Tumpel. Ein verpflichtendes, verbessertes Frühwarnsystem sowie Förderunterricht im Folgejahr helfen Schülern mehr als die Wiederholung einer Klasse. Überdies sollen Schulen verstärkt kostenlose Nachhilfe über das ganze Jahr, spezielle Förderungen vor Schulbeginn und "Schüler-helfen-Schülern"-Projekte anbieten.

Aus dem Bildungsministerium verlautet unterdessen, es gebe rund 42.000 Schüler mit einem oder mehreren Nicht Genügend, 10.000 davon dürften durch die so genannte "Klausel" auf jeden Fall aufsteigen. Zwei Drittel der Schüler würden die Prüfungen bestehen. Und überhaupt hätten nur drei Prozent aller Schüler eine Nachprüfung. Dennoch sei ein Rückgang bei den Repetenten zu verzeichnen, heißt es aus dem Ministerium. Außerdem müsse man auch schauen, "ob die Leute in den richtigen Schulen sind". Das Frühwarnsystem funktioniere "ausgezeichnet", weitergehende Maßnahmen, die die sozio-ökonomische Komponente des Problems angehen wollen, wie von AK und Schülervertretung gefordert, sind weder in Planung noch beabsichtigt. "Wir wollen mit der Lebenszeit junger Menschen sorgfältig umgehen. Und jeder fünfte Schüler hat einen ausgezeichneten oder guten Erfolg im Zeugnis (Notenschnitt bis 1.5 und 2, Volksschüler eingerechnet, Anm.), das muss man auch einmal sehen", freut man sich im Ministerium.

Ähnlich auch der Wiener Stadtschulrat: "Es gibt nichts", heißt es da in ungewohnter Offenheit in Bezug auf kostenlose Nachhilfeangebote. "Unser Schwerpunkt liegt auf dem Frühwarnsystem, das heißt, während des Schuljahres mit den Eltern zu sprechen." Die Lehrer würden den Lernstoff für die Wiederholungsprüfung sowieso eingrenzen. Überdies könne man sich an das Schulservice und an die Abteilung für Schulpsychologie des Bildungsministeriums wenden, die mit "Rat und Tat" zur Seite stehen.

Nachhilfelehrer Bögle scheint nicht nur im Vergleich mit anderen Einrichtungen recht sozial (die Einzelstunde in Mathematik kostet unter 360 Schilling), sondern zeigt auch erstaunlich wenig Standesdünkel: "Mir wäre es lieber, die Schüler würden in der Schule mehr motiviert und gefördert, und bräuchten weniger private Nachhilfe". Dass das sein Institut umbringen könnte, sieht er gelassen: "Ich habe keine Furcht davor". Lehrer bräuchte man auch für kostenlose Nachhilfeangebote - und ob nun Eltern oder öffentliche Hand bezahlen würden, sei ihm egal.